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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Furchterregend war das Gefühl, das Samuel befiel, als er sich ihm näherte. Ein Gefühl wie damals, als die Schattenhexe ihren Erinnerungszauber gesprochen hatte, doch davon wusste Samuel nichts mehr. Er wusste nur, wie er sich jetzt fühlte.

    Schwach. Verwirrt. Ein Fremder in seinem Körper.
    »Wer bin ich?«, murmelte Samuel vor sich hin. »Ich bin Samuel … oder? Samuel. S-a-muel.«
    Sein eigener Name hatte einen fremdartigen Klang, als gehörte er zu jemand anderem.
    »Hallo, Samuel.« Eine schwarze Wolke verließ den Mund des Veränderers und stieg ihm in die Nasenlöcher.
    »Der Ver…än…derer…« Nur mit Mühe kamen Samuel die einzelnen Silben über die Lippen.
    »Ich bin so froh, dass du mir Gesellschaft leistest. Ich habe nämlich heute Geburtstag, musst du wissen.«
    Samuel hatte das Gefühl, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren, nahm sich jedoch zusammen und sagte:
    »Meine Schwester …«
    Der Veränderer schien irritiert, dass Samuel kein Wort über seinen Geburtstag verlor.
    »Deine Schwester? Nun, was ist mit ihr?«
    »Sie … wo … sie …«
    »Entschuldige, aber deine Worte ergeben einfach keinen Sinn. Also, die rhetorischen Fähigkeiten von euch jungen Leuten lassen wirklich sehr zu wünschen übrig. Gehe ich recht in der Annahme, dass du dich nach dem Aufenthaltsort deiner stummen Schwester erkundigen wolltest?«
    Samuel hatte keine Ahnung, ob es das war, was er hatte wissen wollen. Als wäre mit seinem Schatten auch sein Verstand gestohlen worden. Sein Verstand war tatsächlich so beeinträchtigt, dass er gar keine Angst mehr hatte. (Vielleicht denkst du jetzt, dass es doch schön ist, keine Angst zu haben, doch gar nichts mehr zu empfinden, ist noch viel schlimmer.)
    »Schau«, sagte der Veränderer. »Da ist sie. Dort oben in den Zweigen. Siehst du sie?«
    Samuel schaute nach oben, konnte sie aber nicht entdecken.

    »Sieh genauer hin …«
    Als Samuel die Augen zusammenkniff, sah er am Ende eines Astes einen kleinen Punkt. Einen Vogel. Sollte das etwa seine Schwester sein?
    Eine Erinnerung schoss durch Samuels Kopf. Die Erinnerung an den Vogel, der ihn vor den Trollen gerettet hatte, als er ein Hase war.
    »Ich verstehe nicht, warum du dir überhaupt noch Gedanken über sie machst. Was soll man mit einem Vogel anfangen, der nicht singt? Das ist wie ein Körper ohne Schatten oder ein Kind ohne …«
    Er hielt inne und ein Anflug von Traurigkeit huschte über sein Gesicht. »Ach, was soll’s. Vergiss deine Schwester. Wenn sie weiter da oben auf dem Ast hocken will, bitte schön.« Er rief ihr entgegen: »Hallo, Martha! Willst du deinen Bruder nicht begrüßen? Willst du ihm nicht Guten Tag sagen? Ach, ich Dummkopf! Wie sollte ein Vogel denn sprechen können.«
    Der Veränderer schloss die Augen, während ein leiser Singsang über seine spröden Lippen kam. Als er fertig war, hatte Martha wieder ihre ursprüngliche Gestalt angenommen. Ein zehnjähriges Mädchen in einem marineblauen Kleid saß auf dem höchsten Ast des Baumes.
    Samuel sah, was geschehen war, doch fühlte er sich zu schwach und zu verwirrt, um irgendetwas zu tun. Und auch wenn er geistesgegenwärtig genug gewesen wäre, hätte er nicht mehr rechtzeitig reagieren können. Denn der dünne Ast war zwar in der Lage, einen Vogel zu tragen, nicht aber einen Menschen, also gab er den Versuch auf.
    Martha stürzte in die Tiefe, ihr Kleid ein unzureichender Fallschirm. Doch wenige Zentimeter über dem Boden verharrte sie plötzlich regungslos in der Luft. Sie richtete sich auf, als läge sie in einem unsichtbaren Bett, und setzte ihre Füße auf den Boden.

    »Kommt, Kinder«, sagte der Veränderer, »ich will euch eine Geschichte erzählen.«
    Samuel spürte, wie etwas an seinem Kopf vorbeiflog. Zuerst glaubte er, es sei ein weiterer Vogel, doch als er sah, dass es in der Luft anhielt und dem Veränderer in die Hände fiel, bemerkte er, dass es ein Buch war.
    » Die Geschöpfe des Schattenwalds «, sagte der Veränderer und fügte sogleich einige erfundene Kritiken hinzu: »Eine bewundernswerte Leistung! Ein unvergleichliches Meisterwerk! Ein Geniestreich, mit dem sich Professor Tanglewood selbst übertroffen hat! Nun wartet alle Welt auf seine Autobiografie!«
    Er winkte Martha und Samuel zu sich heran, und wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, leisteten sie ihm Folge.
    »Hast du dieses Buch gelesen?« Der Veränderer neigte Samuel sein graues Gesicht zu. »Was hältst du davon? Hat es dir gefallen? Sprich!«
    »Ich …

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