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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Schenk
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mehr im gleichen Zug reisen würden. Was ist mit dem Hotel, fragte sie, wozu haben wir das gebucht? Er sagte nichts, sah sie an, suchte jene Spur von Verletzlichkeit in ihren Augen, in die er sich verliebt hatte damals im Zug. Das Zimmer war erst provisorisch, sagte er, der
Campo dei Fiori
vielleicht doch nicht der richtige Ort, zu touristisch, zu laut, und hast du dir überlegt, wie kalt es in Rom sein kann Anfang Jahr, das hältst du nicht aus ohne Heizung. Argumente dagegen lassen sich immer finden. Natürlich möchte ich mit dir nach Rom, sagte er noch, was nicht gelogen war.
    Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätten ohne Vorwurf auseinander gehen können. Beatrice hätte ihm einfach abhanden kommen sollen. Beim Besuch einer Ausstellung etwa, er stellt sich vor, wie sie im Kunsthaus zusammen an den Bildern entlang schlendern, wie sie ihm die Werke erklärt, wie er ihr zuhört, bis sich im nächsten Moment die Wirklichkeit um ein paar Zentimeter verschiebt, bis Beatrice nicht ihm, sondern einem fremden Besucher den Arm um die Schulter legt, wie sie ein paar belanglose Worte zu diesem fremden Mann sagt, der sich zwischen sie geschoben hat, wie ihm der Fremde durchaus ähnlich sieht, so dass die Verwechslung nicht sofort auffallen muss, wie der Mann den Irrtum vielleicht bemerkt, aber nicht reagiert, wie die beiden sich vom Besucherstrom treiben lassen, zum nächsten Bild, in einen anderen Raum, schließlich das Museum als Paar verlassen, wie sie, statt sich beschämt das Versehen einzugestehen, nur schmunzeln und Arm in Arm die Straßenbahn besteigen und Schwitter alleine beim Ausgang zurücklassen, der ihnen vorsichtig gefolgt ist, ohne einzugreifen. So sollten Beziehungen zu Ende gehen, einander ziehen lassen, sich treiben lassen, fortgetragen werden. Wenn sich dann ein Gefühl von Einsamkeit einstellen sollte, könnte man dem Wind die Schuld geben und dem Wetter.
    Was ihm blieb, waren die Aufnahmen, über hundert Fotos, die meisten unscharf, von der Geschwindigkeit verzogene Strommasten, verwackelte Häuser, Wiesen, immer wieder Bäume, Alleen, Herbstwälder, Wolken am Himmel, die Segelboote auf dem Obersee als zittrige weiße Dreiecke, die Autos farbige Punkte. Er sah auf die Abzüge und versuchte sich vorzustellen, wie Beatrice die Kamera mit ihren dünnen Fingern gehalten, wie sie ihr Auge hinter dem Sucher bewegt hatte. In diesem Moment waren sie zusammen gewesen, hatten die gleiche Luft geamtet, und wenn der Zug bremste oder über eine Weiche holperte, waren sie den gleichen Schwingungen ausgesetzt. Er wollte wissen, woran sie beim Betrachten der Landschaft gedacht hatte, weshalb sie genau in diesem Moment den Auslöser betätigte, genau diese Scheune, jenen Baum festhielt, er suchte nach Details, versteckten Botschaften. Über Tage ließ er die Bilder auf dem Esstisch liegen, ordnete sie einmal nach Farben, am nächsten Tag nach Formen, später nach dem Grad der Unschärfe, gruppierte sie immer wieder neu, nahm eine Lupe zur Hand, um nach Zeichen zu suchen, und konnte doch nicht mehr als ihre Fingerabdrücke finden darauf.

Er zweifelt daran, ob Schnee und Regen, die vor dem Fenster niedergehen, wirklich sind. Vielleicht stellt er sich alles auch nur vor. Darf er seinen Augen denn noch trauen? Seit Stunden keine menschliche Stimme mehr, eine Ruhe, als wäre der ganze Stock, das ganze Gebäude menschenleer, geräumt wegen eines Bombenalarms oder weil irgendwo eine Gasleitung geborsten ist. Alle waren sie herausgeholt worden aus ihren Zimmern, die Pflegerinnen im Laufschritt durch die Flure, die Betten vor sich herschiebend. Nur ihn haben sie vergessen. Still ist es, so dick können die Mauern eines Spitalzimmers gar nicht sein. Sie warten darauf, bis sich alles dreht in seinem Kopf, bis er Stimmen hört und Dinge riecht, die nur noch in der Erinnerung existieren. Dabei hat er sich ganz ruhig verhalten, die Welt betrachtet, sich in Staunen versetzen lassen. Ob sie ihn dafür bestrafen, dass er den Gruber für eine Exkursion hat begeistern, ihn hat anstiften wollen zu einem kleinen Wagnis, seine leider schon angeschlagene Gesundheit noch ein bisschen zu strapazieren? Die können sich nicht vorstellen, wie gut es Gruber getan hätte, für ein paar Stunden aus diesem Loch zu kommen, Luft zu atmen, Licht zu sehen. Doch eines muss er ihnen lassen, die Vereinsamung, der er unterzogen wird, ist subtil, etwas Pflegeaufwand wird durchaus betrieben, aufräumen, Tee bringen, wobei sie darauf achten, dass er nichts

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