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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Schenk
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hält sich fest, versucht an den Ausflug zu denken, als wäre der Duschschwall ein Regenschauer, er steigt in die Höhe, will an die Wettergrenze gelangen, immer höher, bis kältere Luft herangetrieben wird, dem Wind ausgesetzt steht er da, beißt auf die Zähne, hält die Augen geschlossen, eine viertel Stunde, eine halbe Stunde. Irgendwann piepst seine Uhr, seine Lippen sind jetzt blau, das Gesicht weiß, im Spiegel blicken ihn geweitete Augen an. Die Ellenbogen und die Handgelenke schmerzen, als er sich abtrocknet.
    Wieder der Husten, das Aufbegehren, der Schleim. Diesmal will Schwitter den Behälter gleich selber ausspülen. Vor dem Waschbecken stehend, fallen ihm die Stoppeln auf, auch dort, wo er sich am Morgen rasiert hat, wachsen sie nach. Die Trennlinie zur unrasierten Seite verliert sich, er ist froh, wenn sich die beiden Gesichtshälften wieder zusammenfügen. Am Kinn bemerkt er eine leichte Rötung, der Schnitt, er hat ihn vollkommen vergessen. Dabei ist der Spalt noch immer gut zu sehen, die Wunde nicht geschlossen. Fährt er mit den Fingern darüber, spürt er die Vertiefung deutlich. Ein leichtes Brennen, wenn er den Daumen darauf presst, kreisförmig breitet es sich aus. Er wartet, atmet regelmäßig, betrachtet den Riss. Schmerz würde er es nicht nennen, es ist eine leise Irritation, schwach, aber beständig und gerade deshalb beunruhigend. Offenbar hat sich das Gewebe entzündet, und keinem ist es aufgefallen. Wozu ist das Personal ausgebildet, wenn es gefährliche Verletzungen nicht von harmlosen Kratzern unterscheiden kann?
    Alles nur Theater, das Spital eine Bühne, ein paar Schauspielschüler genügen, um Schwung in die Klinik zu bringen, die Rollen sind rasch verteilt, Sprechtexte werden keine abgegeben, alles soll beim Proben entstehen, so natürlich wie möglich, aus der Situation heraus, die Pflegeroutine nimmt ihren Lauf, lüften, betten, waschen, harmlose Behandlungen vorspielen, Fieber messen, Puls ertasten, Essen reichen, ein paar zufällige Berührungen, doch das wichtigste Organ der Pflegerinnen sind ihre Augen, sie fragen, kontrollieren, suchen Gewissheit, manchmal warten sie aber auch nur, damit man sich für ein paar Momente ausruhen kann darin. Echt sind hier nur die Patienten, sie können ihre Rollen nicht auswählen, ja sie werden nicht einmal gefragt, ob sie beim Spektakel überhaupt mittun wollen. Und was heißt Patienten? Um gesunde Menschen handelt es sich, im Schlaf hat man sie überrascht, aus dem Alltag gerissen mit fragwürdigen Diagnosen, in ein desinfiziertes Zimmer gesteckt und in ein Spitalhemd. Über allem strahlt Schwesternweiß. Es braucht keine Ärzte, um Spitalatmosphäre herzustellen. Mit einer Visite zu drohen, genügt, die Angst vor der Konfrontation hält lange genug an, um das Stück mehrmals durchspielen zu können.
    Was Beatrice in seinem Gesicht gesehen hat? Langweilig ist es geworden, geglättet durch sein jahrelanges Bemühen um Zustimmung. Für kurze Zeit verweist der Schnitt auf Eigensinn, aber die Spur der Klinge wird sich verlieren. Finanzielle Sicherheit, es gab keinen anderen Grund, der für ihn sprach, sie arbeitete als freie Lektorin, kein geregeltes Einkommen, keine Vorsorge, den Risiken von Unfall, Krankheit und Alter ausgeliefert. Er vermied es, die völlig ungenügende Absicherung anzusprechen. Ein Jahr mit einem Wohnmobil durch Europa, eine Wohnung mieten in einer Stadt, in den Bergen – sie sprachen über die Zukunft, und die Strapazen schienen ihm wieder gerechtfertigt, sich am Samstag aus dem Bett zu stemmen, sich zwischen Morgenmantel und Trainingsanzug zu entscheiden, er konnte die Unsicherheit ertragen, ob er sich Tee oder Kaffee machen sollte. Es genügte, wenn ihm Beatrice von einem kleinen Haus erzählte, über das sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, und er spürte Energie, von der er zehren konnte, wenn er sich anschließend wieder ins Bett legte.
    Beatrices Zimmer, er sah es deutlich vor sich, hell und ordentlich war es, das Fenster nahm fast die ganze Breite des Raumes ein, auf dem Boden die Matratze und ein dicker weinroter Teppich. Schwitter lag auf dem Rücken, wartete, dass sie aus der Dusche zurückkam. Birkenblätter schwebten draußen vorbei, der Wind, der sie trug, drang durchs Fenster. Dabei waren sie nicht betrunken gewesen gestern, sie hatten sich noch einen Teller Spaghetti geteilt im Commercio und etwas Wein. Und dann hatten sie ein Taxi bestellt, Beatrice hatte sich zum Fahrer vorgebeugt und ihre Adresse

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