Im Tal der bittersüßen Träume
»Bist du verrückt? Du kommst nicht mehr bis ins Dorf! Der Talkessel läuft voll! Von den Bergen kommen Geröll-Lawinen herunter!«
»Ihr habt meinen Vater vergessen!« schrie sie zurück, schrill und mißtönend. »Meinen Vater! Ja, er ist ein Schuft – aber er bleibt mein Vater! Riccardo, geh weg!«
Sie gab wieder Gas und der Wagen schoß vorwärts, auf Pater Felix zu, der noch immer mit ausgebreiteten Armen im Weg stand. Högli hing an der Tür und wurde mitgeschleift. Seine Beine schlugen in den schlammigen Boden, er versuchte mitzulaufen, sich am Türgriff hochzuziehen und in das Führerhaus zu stemmen. Nur nicht die Beine zerbrechen lassen, dachte er, seltsam klar. Noch ein paar Meter, und der mit Steinen durchsetzte Untergrund würde sie ihm kaputtschlagen wie eine Riesenraspel. Ich werde beide Beine verlieren … Evita! Evita …
Ob es doch Rücksicht auf Pater Felix war, der keinen Schritt zur Seite ging, als er den schweren Geländewagen heranbrausen sah, oder ob Evita begriff, in welcher Gefahr Högli schwebte – plötzlich nahm sie den Fuß vom Gas, drehte den Zündschlüssel herum und fiel weinend über das Lenkrad. Mit letzter Kraft zog sich Dr. Högli in den Wagen und sank neben Evita auf den Sitz. Ich blute – dachte er. Meine Beine sind ein einziger blutiger Klumpen.
Aus dem klatschenden Regen tauchte Pater Felix auf, von oben bis unten mit Dreck bespritzt. Ein paar Zentimeter vor ihm war der Wagen zum Halten gekommen, aber die Räder hatten ihn noch mit einer massiven Welle von Schlamm beworfen. Man erkannte ihn nur an seinem Kinnbart.
Vom Hospital rannten jetzt auch Juan-Christo und sogar der Bulle Antonio Tenabo herbei. Er hatte nur eine kurze Unterhose an und Stiefel an den nackten Beinen.
»Alles in Ordnung?« fragte Felix atemlos. Er blieb an der Wagentür stehen. Der Regen, der kein Regen mehr war, trommelte den Schlamm von seinem schmächtigen Körper.
»Alles in Ordnung …« Dr. Högli legte den Arm um Evita und zog sie an sich. Sie hieb mit den Fäusten gegen das Lenkrad, heulte wie ein Wolf, aber dann drückte sie doch ihr Gesicht an die Brust ihres Mannes. »Und bei dir, Felix?«
»Auch!« Er wischte sich über das verschmierte Gesicht und zog den Dreck aus seinen Barthaaren. »Ich weiß jetzt endlich, was Todesangst ist …«
»Wenn das deine einzige Sorge ist!« Högli bewegte seine Beine. Sie gehorchten ihm noch, aber er wagte nicht, an sich herunterzusehen. Er hatte das Gefühl, zwei geplatzte Würste hingen an seinem Körper.
»Was ist?« fragte Felix. »Steigen Sie nicht aus?«
»Ich überlege«, sagte Dr. Högli heiser, »ob wir wirklich nicht mehr ins Dorf kommen.«
»Ausgeschlossen! Hör dir das an! Die Berge fallen zusammen! Aus Paddys Richtung müssen sich ganze Ströme von Geröll ins Tal ergießen! Ein Vulkan aus Wasser, Erde und Felsen.« Er warf den Kopf in den Nacken und blickte in den donnernden Himmel.
»Gehen wir hinein!« Der Augenblick der Wahrheit war nicht mehr hinauszuschieben. Juan-Christo und Tenabo hatten den Wagen jetzt erreicht; sie standen neben dem Pater im Regen und starrten auf Högli und Evita. Der Doktor hielt sie noch immer an sich gepreßt, ihr jämmerliches Schluchzen hörte nicht auf.
»Bringt sie vorsichtig weg!« sagte Högli zu Juan-Christo und Tenabo. »Aber haltet sie gut fest; in dieser Stimmung kann es zu gefährlichen Reaktionen kommen.« Er blieb sitzen, zog Evita über seinen Schoß wie eine Tote, mit dem Kopf voraus, Juan-Christo und Tenabo packten zu und trugen Evita im Laufschritt zurück ins Hospital.
Pater Felix starrte Högli an. Er ahnte etwas. »Gefällt es dir so gut im Auto?« fragte er.
»Ich habe mir immer gewünscht, einmal in einem solchen Geländewagen zu sitzen«, antwortete Högli mit Galgenhumor. »Geh ins Hospital und gib Evita geistlichen Beistand. Ich brauche keinen.«
»Wirklich nicht?« Pater Felix trat nahe an die offene Wagentür. »Du bist ein schlechter Lügner, das hat deine Frau schon begriffen, als sie dich gerade erst ein paar Stunden kannte. Los, komm herunter!«
»Mach, daß du wegkommst, Pfaffe!« bellte Högli zurück.
Sie werden gefühllos, meine Beine, dachte er. Sie sind nicht mehr da … sie haben sich vom Körper abgemeldet. Keine Schmerzen, keine Reflexe, keine Muskelkontraktionen. Eigentlich ein schönes Gefühl, wenn man nicht fürchten müßte, daß man nur noch ein Rumpf ist.
»Wenn du nicht sofort aussteigst, hole ich dich!« sagte Pater Felix. »Hoffe nicht darauf, daß
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