Im Tal der Schmetterlinge
sagte mir, dass Großmutters Hüften und Knie so altersschwach gewesen waren, dass ihr jeder Schritt Schmerzen bereitet hatte. Ihre Kleidung war typisch für die damalige Zeit: vernünftige schwarze Schuhe, die großen runden Knöpfe ihres Mantels, die Handtasche, die an ihrem Arm hing. Sie hatte die Tasche aus einem mit Blumen bedruckten Polsterstoff selbst genäht und mit geschwungenen Holzgriffen in der Farbe von Karamellbonbons versehen. Auch wenn es nicht genau die Art Tasche war, die Mary Poppins besaß, hatte ich meine Mutter als Kind immer angefleht, damit spielen zu dürfen. Aber sie hatte sie mir nie gegeben. »Meine Mutter war eine sehr verschlossene Frau«, erzählte sie später, da war ich schon Mitte zwanzig. »Niemand durfte einen Blick in ihre Handtasche werfen, nicht einmal mein Vater.«
»Sie hätte doch sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn wir ihre Sachen nach ihrem Tod anschauen«, erwiderte ich.
»Aber mich würde es stören.« Und sie hatte die Tasche auch weiterhin in ihrem Zimmer vor mir versteckt gehalten.
Während ich die Handtasche aus der Kiste zog, fielen die Geldbörse meiner Großmutter und Dutzende toter Marienkäfer aus dem Inneren der Tasche auf den Boden. Insekten überwinterten häufig in diesem Haus, krabbelten im Herbst durch die unzähligen Spalten in der Tür und den Fensterrahmen
herein und verkrochen sich in den unbenutzten Kommodenschubladen, genau wie sie draußen unter Blätterhaufen und anderem Gerümpel Schutz suchten. Doch niemals zuvor hatte ich eine solche Menge versammelt gesehen.
Ich hob den ausgebeulten Geldbeutel meiner Großmutter auf, in dem lauter Zettel und Papiere steckten: Einkaufslisten und Kassenzettel, Todesanzeigen von Freundinnen, einige kurze Artikel, die meine Mutter für die Zeitung in Promise verfasst hatte. Ein winziges verschlissenes Foto - nicht viel größer als eine Briefmarke - war in einen behutsam gefalteten Zeitungsausschnitt eingewickelt. Es zeigte einen schlanken Mann mit scharfen Gesichtszügen, der ein weißes Hemd mit einer Armbinde und Hosenträgern trug und sich auf einer Schaufel abstützte. Auf der Rückseite stand in der Handschrift meiner Großmutter: Valentine, Juni 1945, in seinem Garten . Valentine Svensson, der Onkel meines Vaters. Ich faltete den Zeitungsartikel auseinander. Meine Großmutter hatte das Datum darauf vermerkt: 1. April 1965 .
NEUESTE NACHRICHTEN: TURTLE-VALLEY-BEWOHNER VERMISST
Von dem vermissten Turtle-Valley-Bewohner John Weeks fehlt trotz der privat organisierten Suche in den Ptarmigan Hills jede Spur. Der wohlbekannte Holzfäller Valentine Svensson hat die Suche in der vergangenen Nacht zusammen mit seinem Neffen Gustave Svensson zu Pferd begonnen. Mr. Weeks’ Gattin hatte sie darum gebeten, nachdem John Weeks von einem Abendspaziergang in den Bergen nicht zurückgekehrt war. Mr. Svensson erklärt, er wolle die Suche den ganzen Tag und wenn nötig die
Nacht hindurch fortführen. Vergangene Nacht und früh am Morgen erschwerten heftige Regenfälle seine Anstrengungen.
Der Zeitungsartikel handelte von meiner Familie! John Weeks war mein Großvater, und seine Frau, Maud Weeks, meine Großmutter, der auch diese Handtasche gehörte. Ihre Tochter Beth war meine Mutter, Gustave Svensson - Gus - mein Vater. Ich blickte aus dem Fenster auf die Ptarmigan Hills, wo mein Vater und mein Großonkel nach meinem Großvater gesucht hatten. Vor dem Nachthimmel erinnerte das Feuer auf dem Gipfel an die Korona bei einer Sonnenfinsternis: Flammen züngelten wie Sonnenfackeln in die Dunkelheit. Warum hatten mir meine Eltern nie erzählt, dass mein Großvater vermisst worden war? Sie waren beide solch außergewöhnliche Geschichtenerzähler, dass es ihnen einfach nicht ähnlich sah, mir diese Episode aus ihrem Leben vorzuenthalten.
Ich durchsuchte den restlichen Inhalt der Handtasche, in der Hoffnung, auf weitere Zeitungsartikel zu stoßen, die vom Auffinden meines Großvaters handelten, aber es gab keine. Stattdessen entdeckte ich eine winzige Tube mit süßlich riechendem Rouge, einen Gegenstand, den ich meiner Großmutter niemals zugetraut hätte. Das Rouge war immer noch von einem intensiven Rot und duftete würzig, extravagant - diese Worte passten nicht zu dem Bild, das meine Mutter normalerweise von meiner Großmutter zeichnete. Ich hatte meine Großmutter nicht kennengelernt. Nur wenige Monate nach meiner Geburt hatte sie in unserem Gewächshaus einen Herzanfall erlitten und war verstorben.
Ich legte alles
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