Im Tal der Schmetterlinge
halten. Dann öffnete er die Hände, um es mir zu zeigen, und streckte mir die Arme entgegen, als wollte er es mir schenken. Es handelte sich um etwas, das zu bemerken ich mir nie die Zeit genommen hätte: ein winziges, sonderbar grünes Insekt mit zerbrechlichen, tränenförmigen, in allen
Regenbogenfarben schillernden Flügeln. Er schob das Insekt in meine hohle Hand, und ganz plötzlich war ich da , mitten im Hier und Jetzt, war mir der brennenden Sonne auf dem Rücken bewusst, des süßlichen Geruchs der Rinder meines Vaters auf der anderen Seite des Zauns, des leisen Knackens des Ginsters, als seine trockenen Samenhülsen aufplatzten. In diesem Augenblick gab es keine Vergangenheit oder Zukunft. Ich genoss die berauschenden Sinnesfreuden in vollen Zügen und war dankbar, am Leben zu sein.
Wir legten den Hut voller Schmetterlinge auf den Sitz zwischen Ezra und mich, und während wir meine Eltern nach Hause fuhren, fegte eine Böe durch das offene Fenster und wirbelte einige tote Schmetterlinge hoch, die dann um unsere Köpfe flatterten. Auf dem Weg zum Haus stolperte Jeremy. Der Hut entglitt seinen Händen, und die unzähligen Schmetterlinge überzogen den Schotter auf der Auffahrt mit einem gelben Teppich. Viele von ihnen wurden vom nachmittäglichen Wind davongeweht, und Jeremy, Ezra und ich jagten ihnen hinterher, um sie einzufangen, bevor sie im hohen Gras am Rand des Feldes verloren gingen.
Wenn ich mir den Tag ins Gedächtnis rufe, setze ich ihn mit der Farbe Gelb gleich: der Sonnenschein auf den gelben Luzernenblüten und der leuchtend goldene Rainfarn am Straßenrand; das Feld mit den riesigen, in voller Blüte stehenden Sonnenblumen, die den Blick auf Tammy Daltons Haus versperrten; die Zitronenfalter, die über den Blumen tanzten; die toten Schmetterlinge, die wie Blütenblätter der Butterblume vom Wind durch die Lüfte getragen wurden; das safranfarbene T-Shirt, das Ezra trug, und das blonde Haar meines Sohnes. Ein Tag vor so langer Zeit. Ich erinnere mich, Ezra dafür geliebt zu haben, dass er angehalten hatte, um Jeremy die Schmetterlinge zu zeigen und mir den kostbaren Augenblick
in seiner hohlen Hand zu schenken, aber ich weiß nicht mehr, wie es sich angefühlt hatte, und dieser Gedanke stimmt mich traurig, ängstigt mich sogar. Mein Gedächtnis gleicht dem Hut voller Schmetterlinge, von denen einige bereits in dem Moment zerfallen, in dem sie aufgesammelt werden, während anderen, für einen kurzen Augenblick, auf den wohlriechenden Schwingen des Windes wieder Leben eingehaucht wird - etwa beim Geruch von Orangen oder mit braunem Zucker zubereitetem Fudge -, bevor sie wieder davonschweben, knapp außerhalb meiner Reichweite. Wie viel meiner selbst verschwindet mit jeder dieser wurmstichigen Erinnerungen? Wie viel meiner selbst habe ich bereits verloren?
Als wir an jenem Nachmittag das Turtle Valley verließen, verabschiedeten wir uns von der Farm. »Der Mond verfolgt uns«, sagte Jeremy.
Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und sah meinen Sohn, der aus dem Seitenfenster zum Himmel hinaufstarrte.
»Warum verfolgt uns der Mond eigentlich?«, fragte meine Mutter.
»Was meinst du?«
»Bevor wir um die Ecke bogen, war er dort drüben«, sagte sie. »Jetzt ist er hier. Warum bewegt er sich mit uns?«
»Wie meinst du das: bewegt sich mit uns?«
»Nun, warum verfolgt er uns?«
Ich riss das Lenkrad herum, um eine Schildkröte zu verschonen, die die Blood Road überquerte, doch als ich in den Seitenspiegel blickte, musste ich mit ansehen, wie etwas aufspritzte und sie unter dem Reifen eines hinter uns fahrenden Chevrolet den Tod fand. In diesem Augenblick wurde ich von einer bittersüßen Traurigkeit erfasst, dem sehnsüchtigen Verlangen, mich für immer festzuklammern an diesen Tag mit
meiner Mutter, in dem schmerzhaften Wissen, dass ich sie allmählich verlor. Dieser Nachmittag war wie einer ihrer Abschiedsküsse: Das Gefühl ihrer Lippen, die mir Lebewohl sagen wollten, verblasste in dem Moment, in dem sie ihn mir auf die Wange drückte. Am Ende dieses Tages würde sich die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit bereits verflüchtigt haben. Alles, was mir bliebe, wäre eine vertrocknete Rose und eine Tube mit ausgebleichtem Rouge. Sobald ich mit Jeremy zu Hause ankam, zog ich mein Notizbuch und den Stift aus der Tasche und schrieb die Ereignisse des Tages nieder, um die Erinnerung in Tinte festzuhalten, bevor sie mir aus den Händen glitt und unwiederbringlich verloren ging.
Dank
ICH
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