Im Tal des Schneeleoparden
eigentlich hatte sie nach jenen ersten betäubenden Wochen angenommen, nie wieder weinen zu können. Doch selbst nach sieben Monaten brach der Schmerz über Bärbels Tod sich immer wieder mit unverminderter Heftigkeit Bahn. Anna vermisste ihre Mutter. Sie vermisste sie schrecklich. Und unten im Wohnzimmer saß ihr Vater, starrte blicklos in den stumm geschalteten Fernseher und versank immer tiefer in seiner eigenen Welt.
Abrupt zog sie die Schublade vollständig aus der Kommode und kippte den Inhalt auf den Boden. Da ihr Vater es nicht schaffte, die Sachen seiner Frau anzurühren, musste sie nach dem Sparbrief suchen. Vor ein paar Tagen war ein Brief der Deutschen Bank gekommen, in der Bärbel danach gefragt wurde, ob sie ihn weiterlaufen lassen wolle oder nicht. Anna war sehr überrascht gewesen, da die ganze Familie ihre Konten bei der Lüneburger Sparkasse eingerichtet hatte, aber als sie Eddo danach fragte, sah er sie nur ausdruckslos an, zuckte die Schultern, als wolle er sagen, mir doch egal, wer braucht schon Geld, jetzt wo Bärbel fort ist. Sie hätte ihn schütteln mögen, ihm ins Gesicht schreien, dass sie sich nicht darum reißen würde, sich um den Nachlass zu kümmern, aber einer müsse es schließlich tun und er könne ihr verdammt noch mal dabei helfen. Natürlich hatte sie das nicht gesagt, sie war genauso stumm geblieben wie er. Anna kam täglich vorbei, um nach ihm zu sehen, und war entsetzt über seinen Verfall. Wenn es so weiterging, würde er an seinem Arbeitsplatz bald Schwierigkeiten bekommen, und was dann? Durch diesen Sparbrief hätte ihr Vater wenigstens ein kleines finanzielles Polster.
Einen nach dem anderen nahm Anna die Gegenstände aus der Schublade in die Hand. Ein Nageletui, in dem nur noch eine verrostete Schere steckte. Eintrittskarten fürs Freibad aus dem Jahr 1992. Ein zerfleddertes Buch über Rosenzucht – offensichtlich hatte Bärbel viel darin gelesen, die Tipps aber nie umsetzen können: Im Gegensatz zu den meisten anderen Blumen und Sträuchern hatten sich Rosen in dem kleinen Garten hinter dem Reihenhaus nie wohl gefühlt. Anna fand Modeschmuck, ein Lätzchen ihres Bruders Timo, einen Stapel unbeschriebener Postkarten von Norderney und aus dem Bayerischen Wald. Kinokarten, Glasmurmeln, Briefmarken mit D-Mark-Aufdruck, einen abgetragenen grünen Pashminaschal. Ratlos sah Anna auf den Haufen Krimskrams vor ihren Knien. Sie war kein neugieriger Mensch, und so hatte sie selbst als Kind nie einen Blick in diese Kommode geworfen, die ganz und gar das Eigentum ihrer Mutter gewesen war. Jetzt erstaunte sie das Durcheinander, denn auch in den anderen Schubladen bot sich ihr überall das gleiche Bild: völlige Unordnung. Sie passte so gar nicht zu ihrer peniblen und gut organisierten Mutter, die ihr Leben lang ihre Hausfrauenrolle mit Hingabe und Akribie ausgefüllt hatte. Annas Elternhaus war ein aufgeräumter Ort gewesen, und auch Annas eigene Wohnung, die sie seit Abschluss ihrer Ausbildung bewohnte, präsentierte sich stets sauber und adrett. Anna ertrug keine Unordnung, alles brauchte seinen Platz.
Anna öffnete die letzte Schublade, und endlich wurde sie fündig. Unter einem schreiend bunten Seidenschal, den ihre Mutter ihres Wissens nach nie getragen hatte, fand sie einen Schnellhefter aus Pappe. Obenauf lag in einer vergilbten Schutzhülle ein Zertifikat der DLRG . Anna nahm das Papier aus der Hülle und stellte überrascht fest, dass ihre Mutter erfolgreich an einem Lebensretterkurs teilgenommen hatte. Warum war sie dann ertrunken? War das wieder einer der schlechten Witze, die der Schöpfer sich viel zu oft leistete? Anna kniff die Lider fest zusammen, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Es war leicht, Gott die Schuld zu geben, zu leicht, und sie wusste es besser. Ihre Mutter war gestorben, weil sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. Ihr fiel ein, was ein Sportlehrer einmal gesagt hatte: Es waren entweder die Nichtschwimmer oder aber die guten Schwimmer, die ertranken. Die schlechten trauten sich gar nicht erst vom Ufer fort. Vielleicht hatte ihre Mutter sich nicht einmal überschätzt, sondern, wie es ihre Art war, einfach nur geträumt und die einsetzende Ebbe nicht bemerkt. Selbst eine zertifizierte Rettungsschwimmerin kam nicht gegen den übermächtigen Sog der Gezeiten an, dachte Anna bitter und legte das Dokument beiseite.
Ihr Vater, der im Strandkorb gedöst hatte, bemerkte das Fehlen seiner Frau etwa anderthalb Stunden, nachdem sie ins Wasser
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