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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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1
    März 1970
    D ie Schneeleopardin presste sich dicht an die Felswand und verschmolz mit dem Hintergrund, unsichtbar für die schlechten Augen jener zweibeinigen Wesen auf der anderen Seite der Schlucht, die sich unbeholfen über einen Erdrutsch quälten. Die Leopardin verharrte regungslos, lediglich ihre Schwanzspitze zuckte. Sie hatte die Eindringlinge schon vor geraumer Zeit ausgemacht, dunkle Punkte auf dem blendend weißen Schnee tief unter ihr.
    Doch waren die Zweibeiner die Eindringlinge? War nicht vielmehr sie selbst in fremdem Revier, war sie nicht – flüchtend vor dem übermächtigen Weibchen weiter oben, auf der Suche nach einem eigenen Jagdgebiet – zu weit hinabgestiegen und hatte die Trennlinie zwischen ihrer Welt und dem Reich der großen, hochaufgerichteten Tiere überschritten? Dieser Winter, dessen letztes Aufbäumen den Schneesturm der vorigen Nacht durch die tiefen Täler des Manaslu-Gebirgsstocks gejagt hatte, war erst der zweite, dem sie die Stirn hatte bieten müssen. Bisher war sie in ihrem kurzen Leben einem Zweibeiner nur ein einziges Mal begegnet, und auch da hatte er sie nicht bemerkt, war nur schnaufend bergan gekrochen, wo sie mit Leichtigkeit den Anstieg bewältigt hätte. Das zweibeinige Tier hatte streng gerochen, ein Geruch, den die Leopardin nicht hatte einordnen können und der sie davon Abstand nehmen ließ, es zu jagen.
    Die Ohren der Schneeleopardin legten sich zur Seite. Ein Rascheln lenkte ihre Aufmerksamkeit fort von den zweibeinigen Tieren über dem Abbruch und der schemenhaften Erinnerung an jenen Tag, an dem ein übermächtiger und völlig unerwarteter Schmerz ihr die Besinnung geraubt hatte.
    Eine Krähe ließ sich unweit ihres Platzes nieder und starrte sie aus blanken schwarzen Spiegeln an, wissend, dass eine mächtige Jägerin wie die Schneeleopardin sich nicht mit ihr abgeben würde. Nein, die Beute der großen Katze waren die Schafe und die Ziegen der Berge. Doch jetzt musste die Krähe etwas in den Augen der Raubkatze entdeckt haben, das ihr nicht behagte, und flog davon. Die Schneeleopardin sah dem Vogel mit leisem Bedauern nach. Kaum zu erkennen unter dem prächtigen Pelz, waren ihre Flanken nach dem langen Winter eingefallen; sie litt Hunger und hätte den Vogel nicht verschmäht.
    Wieder heftete die Leopardin ihren Blick auf die Gruppe der zweibeinigen Tiere, die mittlerweile einen vorspringenden Felsen inmitten des Gerölls erreicht hatte. Ihre Muskeln waren schmerzhaft gespannt, bereit zur Explosion, bereit zur Flucht, bereit zum Angriff. Eiskalter Wind zerzauste ihr grau-weißes Fell, sie bemerkte es nicht. Laute drangen herüber. Ihre Ohren zuckten.
    Es waren drei. Eines der Tiere hockte etwas abseits, während die anderen beiden mit wild herumfuchtelnden Vorderläufen dicht beieinanderstanden. Und dann verlor ein Zweibeiner den Halt, taumelte, schrie und krallte sich an einem Felsen fest. Das dritte Tier sprang hinzu, doch zu spät. Das verunglückte Tier stürzte in den Abgrund, außerhalb der Sicht der Leopardin.
    Die Sonne sank bereits, als die verbliebenen Zweibeiner den Ort verließen. Sie wandten sich talwärts, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend, zertraten sie die Spuren, die sie zuvor im Schnee hinterlassen hatten, auf ihrem Weg zu den höchsten Höhen der Berge. Die Schneeleopardin sah ihnen nach, bis selbst sie nicht einmal mehr Punkte erkennen konnte. Dann erhob sie sich, schüttelte den Schnee ab, der sich in den Stunden des stillen Verharrens auf ihrem Pelz gesammelt hatte, und stob davon, mit weit ausholenden, geschmeidigen Bewegungen, die dennoch nicht ihr von einem verletzten Hinterlauf herrührendes Hinken verbergen konnten.
    Kein lebendes Wesen störte die Stille der Berge, bis ein dunkler Schatten am Himmel erschien. Hoch oben schwebte ein Schneegeier, spähte nach Aas und schraubte sich schließlich in immer enger werdenden Kreisen zu der Absturzstelle hinab.

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2
    Oktober 2003
    A nna stand unschlüssig im Flur ihres Elternhauses.
    »Ich gehe jetzt, Papi«, sagte sie zu ihrem Vater.
    Eddo lehnte im Rahmen der Wohnzimmertür. In seinen Augen spiegelte sich Müdigkeit. »Ich wünsche dir eine schöne Reise. Bist ja ziemlich lange weg«, sagte er. »Sechs Wochen.«
    »Ja.« Beide schwiegen. Im Hintergrund buhlte der Fernseher um Aufmerksamkeit.
    »Willst du gar nicht wissen, wohin ich fahre?«, platzte es aus Anna heraus.
    Eddo wirkte erstaunt. »Nach Frankreich, wie immer. Hast du doch gesagt, oder

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