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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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nicht?«
    Nein, das habe ich nicht, dachte Anna. Ich habe mich nicht getraut dir zu sagen, was ich vorhabe, und du hast mich auch nie gefragt. »Doch, doch«, sagte sie laut. »Ich hab es wohl vergessen. Natürlich fahre ich nach Frankreich, wie immer.«
    »Na also.«
    »Tschüss, Papi.«
    »Tschüss, Anna. Genieße die Zeit.«
    Anna war schon halb aus der Wohnungstür, als sie es sich anders überlegte. Sie drehte sich um und warf sich in die Arme ihres überrumpelten Vaters. »Ich habe dich so lieb«, flüsterte sie. »Ich will, dass du das immer weißt. Ich brauche dich mehr, als du denkst.«
    Eddo strich Anna unbeholfen über den Kopf. Lange standen Vater und Tochter im Flur, klammerten sich aneinander, als wäre es ein Abschied für immer, bis Anna sich vorsichtig von ihm löste. »Ich muss jetzt los. Rebecca wartet schon. Sie fährt mich nach Hamburg.« Dann trat sie aus der Haustür und zog sie langsam hinter sich zu.
    Als sie einen letzten Blick auf ihren Vater warf, glänzten Tränen auf seinen Wangen. Anna schluckte. Es war das erste Mal, dass sie ihn weinen sah, selbst bei Bärbels Beerdigung waren seine Augen trocken geblieben. Trocken und leblos.
     
    Im Autoradio kündigte ein für die frühe Morgenstunde unerträglich aufgekratzter Moderator ein Sechziger- und Siebziger-Jahre-Special an, und kurz darauf erklang die Stimme von Jim Morrison. Anna sang den Text leise mit. »Du kennst das Lied?«, fragte Rebecca überrascht.
    »Klar.
People are strange.
Es war Mamis Lieblingslied. The Doors.«
    »Ich wusste gar nicht, dass deine Mutter auf so etwas stand.«
    »Sie hat selten Musik gehört, aber wenn, dann immer die Doors, Bob Dylan, Leonard Cohen, die Beatles und so.«
    »Das Lied hört sich ziemlich depressiv an. Nicht gerade mein Geschmack, aber es war wohl ihre Zeit«, sagte Rebecca und überholte eine Lastwagenkolonne. Links der Autobahn erstreckten sich die flutlichtbeleuchteten Containerterminals des Hamburger Hafens. Unheimlichen Wesen gleich, die sowohl aus der Zukunft als auch der Zeit der Dinosaurier stammen konnten, beugten sich Ladekräne über fußballplatzgroße Frachtschiffe und verschoben die bunten Containerbauklötze nach einem komplizierten System. Zur Rechten schwang sich die Köhlbrandbrücke über die Lagerhallen und Schiffsaufbauten, davor kauerte dunkel und gewaltig wie eine Festung die alte Ölmühle. Kurz darauf verschluckte der Elbtunnel Rebeccas Wagen, und als sie auf der anderen Seite wieder auftauchten, waren die Kräne verschwunden. Zwanzig Minuten später stellte Rebecca ihr Auto im Parkhaus des Flughafens Fuhlsbüttel ab.
    »Ganz schön schwer«, stellte Rebecca fest, als sie Annas Koffer von der Rückbank hievte. »Wie willst du damit allein klarkommen?«
    »Er hat Rollen.«
    »Na dann. Bist du aufgeregt?«
    »Darauf kannst du Gift nehmen.«
    Nachdem sie ihren Koffer aufgegeben hatte, schlenderte Anna mit Rebecca in Richtung der Gates. Sie spürte ein seltsames Kribbeln im Bauch, ausgelöst durch die mit Erwartungen und Abschiedskummer, mit Vorfreude und Geschäftigkeit aufgeladene Atmosphäre der Abflughalle. Als sie in sich hineinhorchte, fand sie von allem etwas. Unauffällig wischte sie sich die schweißnassen Hände an ihrer Jeans ab, dann war es so weit. Anna umarmte Rebecca ein letztes Mal, zeigte dem Sicherheitsbeamten ihre Bordkarte, fuhr mit der Rolltreppe ins Untergeschoss und reihte sich in eine der Schlangen vor der Passkontrolle ein.
    Sie machte sich Vorwürfe. Einmal in ihrem Leben war sie zu neugierig gewesen, und nun wünschte sie, sie stünde nicht hier, hätte nicht im letzten Februar, vor beinahe acht Monaten, jene Briefe gelesen. Leider ließ es sich nicht mehr ändern. Sie würde zum ersten Mal in ihrem Leben fliegen. Aber nicht nach Frankreich.
    Sondern nach Indien.

[home]
3
    Februar 2003
    A nna öffnete zögernd die oberste Schublade. Ihr war, als entweihte sie ein Heiligtum, als übte sie Verrat an ihrer toten Mutter. Sie holte mehrmals tief Luft, doch der Kloß in ihrem Hals wurde nur noch dicker, bis sie aufgab und ihren Tränen freien Lauf ließ. Zusammengesunken saß sie vor der Kommode und verzweifelte an sich, an ihrem Vater und an Gott, der in seiner allwissenden Arroganz ihre Mutter mit gerade zweiundfünfzig Jahren aus dem Leben gerissen hatte. Es war einfach nicht fair.
    Es dauerte lange, bis Anna sich so weit beruhigt hatte, dass sie sich dem Schubladeninhalt widmen konnte. Sie war erstaunt, wie viele Tränen sie noch in sich trug –

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