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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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romantischen Moment zerstört. »Nein, Schatz, ein gewisser Dr. Chanda hat gesagt, dass er mich um zehn Uhr sprechen will.«
    »Dann machst du dich besser auf eine längere Wartezeit gefasst. Weil Hari niemals pünktlich ist.«
    »Warum kommen Sie nicht einfach mit uns, Mrs Quentin?« Alvarez’ Benehmen war noch immer tadellos, und mit seinen etwas vorgebeugten Schultern sah er aus, als bereite er sogar noch einen Diener vor. »Es ist bestimmt nicht leicht für Sie, allein zu Will zu gehen.«
    Sie setzte ein gequältes Lächeln auf. »Er hat so fürchterliche Schmerzen, und es ist entsetzlich, wenn man seinem Kind nicht helfen kann.«
    Am liebsten hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst, und es lag mir auf der Zunge, zu erwähnen, dass mein Bruder schon seit Jahren Schmerzen litt, ohne dass sie deswegen jemals für ihn da gewesen wäre.
    Als wir in das Zimmer kamen, hockte Angie dort bereits so aufmerksam wie eine Fee auf einem Fliegenpilz auf dem Stuhl neben dem Bett und achtete darauf, dass ihr nicht die allerkleinste Kleinigkeit entging. Ihre Nähe hatte Will anscheinend nicht gestört. Sein Gesicht war weißer als das Kissen, und er hatte dicke schwarze Ringe um die eingesunkenen Augen, aber eine Schwester hatte seine Bettdecke zurückgeschlagen, damit er nicht schwitzte, und er schlief anscheinend tief und fest. Sein linkes Bein war völlig eingegipst, das andere jedoch war unbedeckt, und diverse Nägel aus Metall hielten die Knochen darin fest. Unter seiner durchschimmernden, straff gespannten Haut blühten violette Hämatome, und das Lächeln meiner Mutter legte sich sofort. Für einen Menschen, der so zart besaitet war wie sie, musste der Anblick all der Wunden einfach grauenhaft sein. Manchmal hatte ich als Mädchen morgens vor der Schule zufällig gesehen, wie sie im Schlafzimmer vor ihrem Spiegel stand und die Knöpfe ihres Nachthemds öffnete, um sich die Schäden des vorangegangenen Abends anzusehen. Dann hatten oft dieselben Hämatome wie bei Will auf ihren Schultern oder ihrer Brust geprangt, weshalb es sicherlich kein Wunder war, dass sie den Anblick der Verletzungen von anderen Menschen nicht ertrug.
    Alvarez zog vorsichtig den Vorhang vor dem Fenster auf, und ein Lichtstrahl fiel auf Wills Gesicht. Mein Bruder blinzelte, schlug langsam seine Augen auf und blickte mich und meine Mutter an, bevor er urplötzlich zusammenfuhr. Vielleicht wegen der plötzlichen Helligkeit im Raum oder weil ein Schwergewicht wie Alvarez vollkommen reglos in der Ecke stand. Auf jeden Fall riss er die Augen auf, spannte alle seine Muskeln an und fing aus Leibeskräften an zu schreien. Dabei fuchtelte er wild mit den Armen, als wollte er alles zerbrechen, was in seine Nähe kam.
    Angie wandte sich an Alvarez. »Irgendwas hat ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Bisher war er mucksmäuschenstill.«
    »Wahrscheinlich sind wir einfach zu viele.« Er trat einen Schritt zurück.
    »Beruhig dich, Schatz«, flötete meine Mutter und berührte seinen Arm, doch er schüttelte sie ab und schrie noch lauter als zuvor.
    Ich zwang mich zu warten, denn die Hysterie würde sich früher oder später legen, weil sie – da es einen Mechanismus innerhalb des Menschen gab, der den Cortisollevel im Blut vorübergehend sinken ließ, bevor er wieder stieg – stets in Wellen kam.
    »Es ist gut, Schätzchen. Du bist in Sicherheit, versprochen«, sagte ich, vor allem, um mich selbst zu beruhigen, aber vielleicht hatte er mich ja gehört, denn sein lautes Schreien ebbte zu einem leisen Wimmern ab, er packte meine Hand und drückte meine Finger derart fest, dass ich erleichtert war, als er den Griff nach einem Augenblick wieder erschlaffen ließ.
    »Du weißt nicht, was ich gesehen habe«, raunte er mir zu.
    »Was hast du gesehen, Will?«
    Er wimmerte erneut und kniff die Augen zu, als mache bereits die Erinnerung ihm Angst.
    »Du kannst ruhig flüstern, wenn du willst.«
    Als er schließlich etwas sagte, sprach er derart leise, dass ich nichts verstehen konnte, doch als ich mich näher an ihn heranschob, war sein Gemurmel plötzlich zu verstehen.
    »Den Teufel«, flüsterte er rau, wobei er seinen Blick zum Fenster wandern ließ. »Und die Engel waren urplötzlich alle wieder weg.«
    »Das liegt nur an den Drogen, die du eingeworfen hast, Schätzchen. Hier bist du in Sicherheit.«
    Ich starrte ebenfalls hinaus. Das niedrige Dach der Leichenhalle war hinter den Bäumen kaum zu sehen, doch in diesem Augenblick wäre es sicher einfacher gewesen, etwas

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