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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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wünschte mir, ich hätte Handschuhe dabei. Am Bahnhof London Bridge wartete ich auf meinen Zug und sah mir die anderen Menschen auf dem Bahnsteig an. Der Bahnhof bekam am Wochenende immer eine völlig andere Identität. Anders als werktags konnte man in seinem eigenen Tempo laufen, ohne dass einem eine ganze Armee von Anzugträgern in die Quere kam.
    Auf der weniger als halbstündigen Fahrt nach Süden kam ich durch vertrautes Territorium. Auf die exklusiven Apartmenthäuser, die in Camberwell entstanden waren, folgten das verdreckte Dach des Einkaufszentrums Lewisham und danach kilometerweit viktorianische Backstein-Reihenhäuser, deren besten Jahre längst vorüber waren.
    Um kurz nach zehn erreichte ich Blackheath. Die dort überwiegend lebenden kaufkräftigen Senioren führten scharenweise ihre sorgfältig getrimmten Hunde aus und bummelten an den Schaufenstern der Designer-küchengeschäfte vorbei. Ich entdeckte meine Mutter, ehe sie mich sah. Sie saß an dem Tisch, den sie immer reservierte, direkt am Fenster ihres Lieblingscafés, und sah auch wie immer aus: unaufdringlich elegant gekleidet und mit tadellos frisiertem grauen Haar.
    »Schätzchen.« Sie küsste die Luft links und rechts meines Gesichts.
    »Ich hoffe, ich komme nicht zu spät.«
    »Dein armes Gesicht, Alice«, murmelte sie. »Was in aller Welt ist damit passiert?«
    »Nichts weiter. Ich bin einfach auf dem vereisten Gehweg ausgerutscht.«
    Während sie noch immer vollkommen entgeistert auf mein blaues Auge starrte, fragte ich: »Und was isst du?«
    »Ich glaube, dasselbe wie immer.«
    Ich hielt mir die Speisekarte vors Gesicht. »Ich nehme die Eier Benedikt mit Vollkorntoast.«
    »Wenigstens hast du noch Appetit, Schätzchen. Das ist ein gutes Zeichen.«
    »Was willst du damit sagen, Mum?«
    »Dass du nicht noch mehr abnehmen darfst, Alice. Denn du bist bereits dünn genug.«
    »Ich habe nicht ein Gramm abgenommen, Mum, und ich habe auch noch immer Kleidergröße 36. Für den Fall, dass du dir Sorgen machst.«
    »Das war als Kompliment gemeint.« Sie hob beide Hände in die Luft, als beruhige sie ein wildes Tier. »Meine Güte, du kannst manchmal wirklich schnippisch sein. Hast du arbeitsmäßig gerade Stress?«
    Ich zählte bis zehn, bevor ich ihr eine Antwort gab. »Dort läuft alles bestens, vielen Dank. Im März kriege ich sogar eine eigene Praktikantin zugeteilt.«
    Meine Mutter sah mich durchdringend aus ihren grauen Augen an. Sie war wie immer so dezent geschminkt, dass es beinahe nicht zu sehen war, deckte dadurch aber geschickt sämtliche Schönheitsfehler ab. Jetzt knabberte sie vorsichtig an einer Ecke ihres mit Mandeln bestreuten Croissants.
    »Hast du deinen Bruder in letzter Zeit gesehen?«
    »Ich sehe ihn fast jeden Tag. Sein Zustand ist unverändert.«
    Sie sah mir dabei zu, als ich mir die erste Gabel voller Ei zwischen die Zähne schob. »Geht er immer noch zu dieser Therapiegruppe?«
    »Ich bin mir nicht sicher«, gab ich schulterzuckend zu. »Weil er mir nie etwas erzählt.«
    Meine Mutter runzelte die Stirn, und plötzlich sah man ihr ihr Alter an, denn von ihren Augenwinkeln dehnten sich zwei Netze tiefer Falten aus.
    »Könnte er nicht eine Zeitlang bei dir wohnen, Alice?«
    »Also bitte, Mum. Ich habe dir doch schon gesagt, dass das nicht so einfach ist.«
    »Aber er kann schließlich nicht ewig in diesem elenden Bus hausen. Und du hast inzwischen schließlich sogar eine eigene Wohnung.« Ihre Stimme wurde immer schriller, so, als hätte sie vergessen, dass sie sich an einem öffentlichen Ort befand.
    »Er könnte doch auch zu dir ziehen, nicht wahr?«, fragte ich in ruhigem Ton zurück. »Schließlich hast du auch ein Gästezimmer.«
    »Diesen Tiefschlag hättest du dir sparen können.« Sie runzelte erneut die Stirn. »Schließlich weißt du ganz genau, dass er nicht einmal auf meine Telefonanrufe reagiert.«
    Ich legte meine Gabel fort. »Lass uns bitte von was anderem sprechen, sonst gibt es nur Streit.«
    »Also gut, Thema beendet.« Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick. »Aber vergiss nicht, dass er dein Bruder ist und dass du ihm deshalb helfen solltest, Alice«, rief sie mir zum Abschluss in Erinnerung.
    »Wir sollten ihm beide helfen, Mum«, gab ich zurück und sah sie genauso böse an.
    Es hatte einfach keinen Sinn, ihr zu erklären, dass ich Will schon tausendmal auf Knien angefleht hatte, doch bei mir einzuziehen. Denn dann würde ich einfach für irgendetwas anderes kritisiert. Dieses Muster hatte sich auch

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