Im Totengarten (German Edition)
Gewürzen angefüllt. Ich sprintete entlang des linken Flussufers die Capital Wharf hinab. Es herrschte gerade Ebbe, die das träge Wasser langsam Richtung Osten plätschern ließ. In Höhe der alten Treppe von Wapping brannten meine Oberschenkel, und so nahm ich auf der obersten Stufe Platz und verfolgte, wie ein Polizeiboot den mittleren Kanal hinaufschoss und eine Flut von dunkelbraunem Schlamm gegen die Ufer klatschen ließ. Er roch nach Salzwasser und Jauche und nach allem anderen, was der Fluss zu schlucken gezwungen gewesen war.
Es war bereits nach neun, als ich wieder nach Hause kam, und der Polizeiwagen war nicht mehr da. Sean hatte zwei Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, die erste ruhig und vollkommen vernünftig, die zweite allerdings in einem Ton, als wäre er ein völlig anderer Mann.
»Du bist ein Feigling, Alice«, stellte er mit schleppender Stimme fest. »Du bist einfach weggelaufen, weil du angefangen hast, etwas zu empfinden, stimmt’s? Verdammt, es ist wirklich seltsam. Ich weiß, dass du die Psychologin bist, aber du brauchst dringend Hilfe, echt.«
So ging es mehrere Minuten weiter. Sean erklärte mir, dass ich Angst vor meinen eigenen Gefühlen hätte, und zählte all die Gründe auf, aus denen wir einfach ein Traumpaar waren. Dabei wechselte sein Ton zwischen Zärtlichkeit und Zorn, und manchmal klang er völlig abgedreht. Wahrscheinlich war er von der Arbeit gekommen und hatte erst mal eine Flasche Wein geleert. Ich löschte seine Nachricht, ging weiter in die Küche, setzte Spaghettiwasser auf und wühlte im Kühlschrank nach der Tomatensauce und dem letzten Stückchen Parmesan.
Als mein Essen fertig war, blätterte ich in der Post. Eine Tierschutzorganisation hatte mir geschrieben und das Foto eines goldfarbenen Labradors dazugelegt, dessen sehnsüchtiger Blick mir deutlich machen sollte, dass ich seine letzte Hoffnung war. Mein Kontoauszug zeigte mir, dass die Hypothek für meine Wohnung zwei Drittel meines Gehalts verschlang. Ich stopfte ihn wieder in den Umschlag und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie viele Jahrzehnte es noch dauern würde, bis der Berg an Schulden abgetragen war. Ich schob mir die nächste Gabel voll Spaghetti in den Mund und schnappte mir den nächsten Brief. Er war in Central London aufgegeben worden, und die Handschrift – winzig kleine schwarze Buchstaben, die aussahen, als ob ein starker Wind sie in die falsche Richtung blies – war mir fremd. Der Briefbogen war dick und blütenweiß, wies aber weder ein Datum noch eine Adresse, noch den Namen des Verfassers auf.
Liebe Alice,
ich habe das Gefühl, als würde ich dich bereits kennen. Du bist die Art von Mensch, die fast täglich Überstunden macht, weil sie denkt, dass sie anderen helfen kann. Und dann gehst du fast jeden Abend laufen. Du siehst anders aus, während du läufst. Entspannt, als könnte dich niemand einholen und als gäbe es nichts, wovor du dich fürchten musst. Was du noch nicht weißt, ist, dass Schmerz eine Art von Vertrautheit und erfüllend ist. Wenn jemand Schmerzen hat, kann er nichts verbergen. Dann kann man direkt in ihn hineinschauen.
Ich freue mich schon darauf, in dich hineinzuschauen, Alice.
Meine Gabel fiel mir aus der Hand. Plötzlich ekelte ich mich vor dem Anblick der Spaghetti, auf deren weißen Fäden ein Klecks roter Sauce geronnen war. Ich kratzte die Reste meines Essens in den Mülleimer und ging auf den Balkon. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich diesen Schrieb einfach zerreißen oder akzeptieren sollte, dass er ein Gefühl wie allerschlimmste Zahnschmerzen in mir geweckt hatte, das sicher nicht so schnell wieder verging.
6
Am nächsten Morgen wählte ich meine Garderobe sorgfältiger als sonst. Normalerweise nutze ich an Wochenenden die Gelegenheit, einfach in Jeans und ausgelatschten Turnschuhen herumzulungern, weil mich schließlich niemand sieht. Doch an diesem Samstag zog ich eine schwarze, enggeschnittene Hose, eine cremefarbene Seidenjacke sowie hochhackige Stiefel an, kämmte mein Haar zu einem Pferdeschwanz und ging in meinem besten Mantel aus dem Haus.
Wills Bus war nirgendwo zu sehen, dafür aber war der Streifenwagen wieder da, in dem ein neues Paar Bewacher saß. Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Frau, die so heftig mit dem Mann hinter dem Steuer flirtete, dass die beiden gar nichts bemerkten, als ich an ihnen vorüberlief. Ich ging die Tooley Street hinab, vergrub meine Hände in den Taschen meines Mantels und
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