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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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sind seine Spezialität, denn er ist Beratungsexperte, den man unmöglich beleidigen, verärgern oder überraschen kann.
    »Frag mich doch einfach, woher ich das Veilchen habe, Hari. Schließlich will ich nicht, dass du vor Neugier platzt.«
    Er sah mich mit seinem gewohnten ruhigen Lächeln an. »Sicher willst du damit sagen, dass du selbst es kaum erwarten kannst, es mir zu erzählen.«
    »Umgekehrte Psychologie, Hari. Das ist eine meiner Lieblingstechniken.«
    Er sah mich nachdenklich aus seinen dunkelbraunen Augen an, und ich konnte verstehen, warum meine Freundin Tejo den Bund fürs Leben mit ihm eingegangen war. In den Sechzigern hätte er problemlos seinen Bart noch länger wachsen lassen und als Guru Popstars um sich scharen können, die ein kleines Vermögen dafür hingeblättert hätten, mit gekreuzten Beinen vor ihm auf dem Fußboden zu sitzen und die Weisheiten aufzusaugen, die er von sich gab.
    »Ich werde dich nicht fragen, woher du die Verletzung hast, Alice, aber ich glaube, du arbeitest zu viel, und das macht mir Sorgen. Du bist schließlich meine Spitzenkraft, und ich möchte nicht, dass du dich übernimmst.« Er legte kurz die Hand auf meine Schulter, wandte sich dann aber wieder zum Gehen.
    Nach meinem letzten Termin ging ich hinunter auf die Frauenstation, um nach dem anorektischen Mädchen zu sehen, das ich dort eingeliefert hatte. Lauras Mutter saß noch immer reglos neben ihrem Bett, als hätte sie seit Anbeginn der Zeit nichts anderes gemacht. Sie nickte zur Begrüßung, brachte aber vor Erschöpfung keinen Ton heraus. Auf dem Tablett auf Lauras Tisch schwamm ein Stück Apfelkuchen in einem leuchtend gelben Vanillesaucensee. Sie war bei Bewusstsein, aber ihre Haut war bleich und durchscheinend wie Pergament, und als ich ans Fußende des Bettes trat, starrte sie mich unter derart schweren Lidern hervor an, dass man hätte glauben können, dass sie nicht erst fünfzehn, sondern fünfzig war. Auf ihrer Wange wuchs ein dünner Flaum weißlich blonden Haars. Ein Zeichen dafür, dass ihre Hormone Amok liefen, während ihr verhungernder Körper an die allerletzten Fettreserven ging.
    Urplötzlich brauste sie auf.
    »Sie können mich nicht zwingen, diesen Scheiß zu essen.« Überraschend energisch schob sie ihre Puddingschüssel von sich fort, und ein Teil der Sauce schwappte auf den Tisch.
    »Ich weiß, dass ich dich zu nichts zwingen kann«, gab ich zurück und sah sie ruhig an.« Ich kann dir zwar Hilfestellung geben, aber den harten Teil der Arbeit musst du selbst leisten.«
    Als ich wieder ging, war ich erleichtert, weil ich wusste, dass sie sich erholen würde. Ihr Zorn war ein Zeichen dafür, dass noch ein gewisser Kampfgeist in ihr steckte. Die Mädchen, um die man sich die größten Sorgen machen musste, hatten bereits völlig dichtgemacht. Die hatten einzig das Verlangen, vollends zu verschwinden, und lagen deswegen nur noch vollkommen apathisch da.
    *
    Lola war nicht da, als ich nach Hause kam. Draußen war es dunkel, und auf meiner Fußmatte wartete ein Stapel Post, den ich aufhob und mit in die Küche nahm. Dort legte ich ihn achtlos auf den Tisch, während ich aus dem Fenster sah. Anstelle von Wills Bus parkte ein Streifenwagen auf der anderen Straßenseite, in dem zwei Beamte mit ihrem Abendbrot beschäftigt waren. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder eher davor fürchten sollte, dass Ben Alvarez beschlossen hatte, mich im Auge zu behalten für den Fall, dass noch einmal ein Exhäftling beschloss, bei mir vorbeizuschauen.
    Ich zog meine Joggingschuhe an und rannte die Treppe hinunter, wobei ich jeweils zwei Stufen auf einmal nahm. Einer der Polizisten starrte mich verwundert an. Offenbar legte ich nicht das angemessene Verhalten eines Opfers an den Tag, doch es war eine Erleichterung für mich, mich endlich zu bewegen, als ich Richtung Westen auf die Tower Bridge zulief. Ich habe diese Brücke immer schon geliebt, denn sie wirkt unglaublich filigran, ist aber zugleich derart robust, dass sie jährlich das Gewicht von einer Million Fahrzeugen erträgt. Und sie konnte sich so weit öffnen, dass sogar genügend Platz für das größte Schlachtschiff unserer Marine unter ihr war.
    Am St. Katharine’s Dock versuchte ich, mir die Umgebung vorzustellen, bevor die großen Bauträger sie in Besitz genommen hatten, während sie noch in der Hand der Ostindischen Kompanie gewesen war. Riesengroße Schiffe mussten täglich hier gelegen haben, die Frachträume bis unters Dach mit Seide und

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