Im Totengarten (German Edition)
was alles falsch lief und wie machtlos er dagegen war. Als ich zu ihm aufsah, zuckte er zusammen. »Ich bringe Sie besser ins Krankenhaus.«
»Wegen einer aufgeplatzten Lippe und ein paar Abschürfungen? Reden Sie doch keinen Unsinn. Wenn es morgen früh nicht gut ist, gehe ich in der Ambulanz vorbei.«
Er drückte die Kompresse an mein Gesicht. »Hören Sie, ich will Ihnen nicht noch mal einen Vortrag über Vorsicht halten.«
»Dem Himmel sei Dank.«
»Aber warum haben Sie einen Spion in Ihrer Wohnungstür, wenn Sie gar nicht durchgucken?«
»Normalerweise tue ich das ja. Nur habe ich vorhin jemand anderen erwartet.«
»Ihren Freund?«
»Nein.«
»Sie hat mich erwartet.« Lola erschien in der Tür des Wohnzimmers, und Alvarez zeigte dieselbe Reaktion wie alle Männer, wenn sie sie zum ersten Mal irgendwo sahen. Sie lehnte am Türrahmen, groß, mit lilienweißer Haut und langen, dichten roten Locken, und sah wie das präraphaelitische Urprachtweib aus.
Mühsam lenkte er den Blick zurück auf mich. Vielleicht lag es nur an der Gehirnerschütterung, aber ich hatte das Gefühl, als käme er mir dabei ungebührlich nah. Ich konnte die dunklen Ringe unter seinen Augen und sogar die allerkleinsten Bartstoppeln auf seinen Wangen sehen, rutschte unbehaglich ein Stückchen zurück und presste meinen Rücken an die Wand.
»Cley hat es nicht böse gemeint«, murmelte ich.
»Sie verteidigen ihn sogar noch?« Er schüttelte verblüfft den Kopf.
»Er hat Angst, das ist alles. Er hat nach einem Ort gesucht, an dem er sich verstecken kann.«
»Das ist doch wohl total verrückt. Ihnen scheint einfach nicht klar zu sein, wenn Sie in Gefahr sind.« Er stand wieder auf. Vielleicht hatte er beschlossen, ich wäre ein hoffnungsloser Fall. »Schließen Sie die Tür in Zukunft doppelt ab.«
Das laute Donnern seiner schweren Schuhe hallte durch den Korridor, als er wieder verschwand.
»Mein Gott«, murmelte ich. »Er redet mit mir wie mit einem kleinen Kind.«
»Wenigstens redet er mit dir.« Lola hatte einen träumerischen Blick. »Warum sind die tollen Männer immer verheiratet?«
»Findest du ihn etwa attraktiv?«
»Meine Güte, ja. Aber hast du seinen Ehering gesehen? Er ist mindestens einen Zentimeter breit.«
Am nächsten Morgen duschte ich ausgiebiger als sonst und seifte mich besonders gründlich ein. Dabei hatte mein Zusammenstoß mit Cley, abgesehen von einem leichten Pochen hinter meinem rechten Auge, keine nennenswerten Folgen gehabt. Als ich jedoch in den Spiegel sah, bemerkte ich, dass ich mich zwar nicht wirklich elend fühlte, aber meine äußere Erscheinung richtiggehend furchteinflößend war. Obwohl ich weder doppelt noch verschwommen sah, hatte ich eine dunkelblau verfärbte Schwellung oberhalb des Jochbeins, aber wenigstens heilte meine aufgeplatzte Oberlippe bereits wieder. Ich trug etwas Make-up auf und zog meinen schwarzen Wollrock unter einer weißen Seidenbluse an.
Lola saß in einem leuchtend blauen Trainingsanzug in der Küche und sah mich verblüfft über den Rand ihres Kaffeebechers an.
»Du hast doch wohl nicht wirklich vor, arbeiten zu gehen.«
»Was denn wohl sonst?«
»Ah, dich hat gestern ein Irrer überfallen und k. o. gehauen. Deshalb solltest du wie ein normaler Mensch den ganzen Tag gemütlich auf dem Sofa liegen, Schokolade in dich reinstopfen und dich bemitleiden.«
»Dann würde ich mich zu Tode langweilen.«
»Jesus, Maria und Josef.« Sie warf ihre Hände in die Luft. »Du bist ein Androide, oder? Menschliche Gefühle sind dir einfach fremd.«
»Du hast mich durchschaut. Wo willst du überhaupt hin?«
»Zum Tanzunterricht. Ich versuche, langsam wieder in Form zu kommen.«
Sie sah ängstlich auf ihre kilometerlangen Beine, als hätten sie möglicherweise über Nacht ein paar Zentimeter verloren.
Glücklicherweise waren die Menschen auf der Arbeit viel zu höflich, um auf meine Verletzungen einzugehen. Aber dafür sind wir Psychologen schließlich auch berühmt. Dank jahrelangen Trainings sind wir nicht mehr in der Lage zu sagen, was wir wirklich meinen, oder auch nur eine direkte Frage zu stellen.
Im Flur schwebte mein Vorgesetzter Hari auf mich zu. Wir sind seit Jahren auch privat befreundet, aber ich habe ihn nie anders als mit ordentlich gebundenem safrangelben Turban, teurem Anzug und sorgfältig gestutztem Bart gesehen. Er schlich schon den ganzen Vormittag um mich herum auf der Suche nach dem rechten Augenblick für ein bedeutsames Gespräch. Solche Gespräche
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