Im Totengarten (German Edition)
weil ich zu wenig für sie da gewesen war. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie verstört wohl ihre Mutter war, sondern lehnte mich gegen die Wand und wühlte nach einem Taschentuch, um mir damit den Mund abzuwischen. Inzwischen atmete ich wieder deutlich ruhiger, und auch meine Gedanken drehten sich ein wenig langsamer in meinem Kopf.
Es hätte keinen Sinn, wenn ich jetzt zusammenbräche. Denn das brächte niemanden zurück. Für Laura, für das Crossbones-Mädchen und für Suzanne Wilkes konnte ich nichts mehr tun, aber ich könnte den Mörder daran hindern, weiter Jagd auf junge Frauen zu machen.
Ich stieß mich zähneknirschend von der Mauer ab. Von nun an würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um Burns und Alvarez zu helfen, diesen Kerl zu finden, ehe ihm das nächste Mädchen in die Hände fiel.
Die kalte Luft brachte mich zur Besinnung; ich lief um den Park herum und schleppte mich kraftlos durch das Treppenhaus auf die Station, auf der mein Bruder lag. Als ich durch die Scheibe in der Tür von seinem Zimmer spähte, sah ich Lola, die auf einem Stuhl am Kopfende des Bettes saß. Zwar war Will auch weiterhin bewusstlos, doch ich konnte deutlich sehen, dass Sean nicht untätig gewesen war. Die enorme Wunde entlang des rechten Beins hatte er sorgfältig genäht, und die gesplitterten Knochen hielt er mit Hilfe chirurgischer Stützkörbe an ihrem Platz.
Es war unsinnig, einfach hineinzuplatzen, also blieb ich stehen, betrachtete meine Freundin, die die Hand von meinem Bruder hielt, und meine Augen füllten sich erneut mit Tränen, als ich hörte, wie sie ihm ein leises Schlaflied sang, obwohl er schon in tiefen Schlaf versunken war.
Hari ging nicht an den Apparat, als ich ihn auf seinem Handy anrief, um zu sagen, dass ich eine Woche Urlaub bräuchte, und so sprach ich einfach auf die Mailbox, bat ihn, mich am Montagmorgen kurz zurückzurufen, und spazierte, statt wie sonst den Weg im Sprint zurückzulegen, ganz gemütlich nach Hause. Dichter winterlicher Nebel lag wie eine weiße Decke auf dem Fluss, weshalb das andere Ufer nicht zu sehen war. Heute war alles anders, und so rannte ich nicht nur nicht, sondern setzte mich ins teuerste Café an der ganzen Butler’s Wharf, was mir normalerweise nie einfiele. Während neue Nebelschwaden von der Küste in die Stadt gezogen kamen und die Frachter, die sich tutend einen Weg flussaufwärts bahnten, kaum zu sehen waren, bestellte ich mir eine heiße Schokolade und, obwohl der Zucker und die Ruhepause mir genügend Kraft verliehen, um auch noch den Rest des Wegs zu Fuß gehen, legte mich, als ich nach Hause kam, ohne mir auch nur die Schuhe auszuziehen, auf mein Sofa und schlief auf der Stelle ein.
Es war bereits dunkel, als das Klingeln des Telefons an meine Ohren drang. Noch schwerer zu ignorieren jedoch war das Klopfen an der Wohnungstür, das zwar nicht laut, aber beharrlich war. Offensichtlich hatte mein Besucher nicht die Absicht, einfach so wieder zu gehen.
Das Gesicht, das im Spion zu sehen war, war leicht verzerrt. Trotzdem hätte ich das dunkle Haar und das vertraute Stirnrunzeln inzwischen überall erkannt.
»Ich finde, wir sollten es ordentlich angehen«, erklärte Alvarez. »Lass uns was zusammen trinken gehen, wie das normale Leute tun.«
Während ich noch überlegte, harrte er regungslos auf der Schwelle meiner Wohnung aus. Er wirkte so solide und so ruhig, als bliebe er, wenn nötig, bis zum Ende aller Tage dort stehen.
21
Seine Bartstoppeln waren verschwunden, und er sah zum ersten Mal so aus, als akzeptiere er sogar ein Nein.
»Was wäre, wenn ich sagen würde, dass ich dafür heute Abend viel zu müde bin?«
»Dann hätte ich den Weg umsonst gemacht. Aber ich würde immer wiederkommen, wie ein Bumerang.« Sein Gesichtsausdruck war unergründlich, und ich hatte keine Ahnung, ob die Antwort ernst gemeint oder eher spöttisch war. Widerstrebend trat ich einen Schritt zurück und ließ ihn ein.
»Ich warne dich, ich bin nicht unbedingt in Höchstform.«
»Deshalb bin ich hier.« Wie immer rief sein durchdringender Blick einen Gefühlswirrwarr in meinem Innern wach. Ich schwankte zwischen dem Verlangen, mich verlegen abzuwenden, und dem Wunsch, ihn einfach in mein Schlafzimmer zu zerren, hin und her.
Ich zog mich um und musterte mein wenig schmeichelhaftes Spiegelbild. Unter meinen Augen lagen dicke graue Schatten, und ich hatte keine Ahnung, ob das Flattern meines Magens eher meinem Hunger oder meiner Aufregung wegen des
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