Im Totengarten (German Edition)
und ihr dabei geholfen, sich damit zu arrangieren, dass sie sterben muss.« Er blickte in den Nebel, als sähe er direkt durch ihn hindurch in die Vergangenheit. »Keine Ahnung, wie wir ohne ihre Hilfe damit klargekommen wären.«
»Es tut mir leid«, stellte ich leise fest.
»Das geht allen so. Als die Leute das am Anfang gesagt haben, bin ich fast ausgeflippt. Wahrscheinlich habe ich es mir mit jeder Menge Freunde verscherzt, weil ich ihnen gesagt habe, dass sie sich ihr sinnloses Mitleid in die Haare schmieren sollen.«
»Das bezweifle ich. Wenn man trauert, kann man sagen, was man will. Dann sind die normalen Regeln des menschlichen Miteinanders außer Kraft gesetzt.«
Er massierte sich die linke Schläfe. »Ich bin sowieso nicht allzu gut darin, diese Regeln zu befolgen.«
»Das ist mir bereits aufgefallen. Wie lange kanntest du Louisa?«
»Ewig«, antwortete er prompt.
»Seit Anbeginn der Zeit?«
»So ungefähr. Ich habe sie kennengelernt, als ich fünfzehn war. Wir waren damals zwei spanische Kids, die von lauter Londonern umgeben waren. Die einzige Zeit, in der wir nicht zusammen waren, war nach dem College. Während ich in London blieb, um Jura zu studieren, ging sie zurück nach Spanien und studierte dort Innenarchitektur. Wahrscheinlich dachte das arme Mädchen, dass es mich nie wiedersieht. Aber als ich mit dem Studium fertig war, wollte ich nicht den ganzen Tag an irgendeinem Schreibtisch sitzen, und ein paar Tage nachdem ich zur Polizei gegangen war, haben wir geheiratet. Allerdings habe ich meine ganze Überredungskunst gebraucht, um sie dazu zu bringen, wieder nach England zurückzuziehen.«
Ich blickte aus dem Fenster, doch hinter der dichten Nebelwand waren die Lichter auf der anderen Flussseite immer nur kurz zu sehen. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie viel Mut man brauchte, um so jung den Bund fürs Leben einzugehen. Ich selber hatte mich mein Leben lang vor festen Beziehungen gedrückt. Alvarez saß auf der Couch und unterzog mich einer neuerlichen eingehenden Musterung.
»Das solltest du nicht tun«, erklärte ich. »Denn in diesem Land gilt es als unhöflich, andere Menschen derart anzustarren.«
»Man darf ja wohl noch gucken, oder nicht? Und vor allem starre ich dich nicht an, sondern warte darauf, dass du mir vielleicht endlich auch einmal was von dir erzählst.«
»Das tue ich nur, wenn ich betrunken bin.«
Alvarez winkte dem Kellner, und der kam mit weiteren zwei Gläsern durch den Raum geeilt.
»Also trink. Vielleicht kriegst du dann ja irgendeinen persönlichen Satz heraus«, forderte er mich heraus und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Du kannst sagen, was du willst.«
»Dazu muss ich in der Stimmung sein.«
Er rollte mit den Augen. »Warst du schon immer so verschlossen? Stand bei dir schon in so großen Buchstaben ›Bitte nicht stören‹ auf der Stirn?«
»Findest du, dass ich verschlossen bin?«
Seine Arme waren immer noch vor seiner Brust gekreuzt. »Das denke ich nicht nur, Alice. Es ist ganz einfach so.«
»Also gut, was willst du wissen?« Das Band um meine Brust zog sich zusammen, als wenn ich in einem Fahrstuhl fuhr.
»Erzähl mir von deinem Bruder«, bat er mich, und ich trank einen möglichst großen Schluck von meinem Bier.
»Will war ein Genie, er hatte einen unglaublichen IQ und hat sein BWL-Studium in Cambridge als Bester seines Jahrgangs absolviert. Er hatte Hunderte von Freunden, einen super Posten drüben im Finanzdistrikt, alles, was man sich nur wünschen kann. Aber wahrscheinlich hat er übertrieben, hob ein bisschen zu sehr ab und fiel am Ende dementsprechend tief.«
»Das muss für eure Eltern hart gewesen sein.«
»Mein Vater lebt nicht mehr. Er starb, als mein Bruder neunzehn war, aber die beiden standen sich nie wirklich nah.«
»Das ist ja wohl ein Witz.« Alvarez wirkte schockiert. »Wenn ich jemals den Geburtstag meines Vaters vergessen würde, kämen meine Brüder prompt nach England, um mich windelweich zu prügeln«, meinte er, und ich lachte leise auf.
»Wie dem auch sei, jetzt habe ich erst mal genug von mir erzählt. Mehr kriegst du nicht von mir.«
Er schüttelte verblüfft den Kopf, hörte aber aufmerksam zu, als ich von anderen Dingen sprach, und hätte fast gelächelt, als ich die Geschichte von Lolas neuester Eroberung zum Besten gab.
Und dann leerte sich die Bar, und er beugte sich zu mir herüber und küsste mich zärtlich auf den Mund. Mein Herz schlug einen Purzelbaum. Seine Schulter unter meiner
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