Im Totengarten (German Edition)
dass jemand, der so krank ist wie dein Bruder, mit einer Waffe durch die Gegend läuft?«
»Was hätte ich denn machen sollen? Ich habe versucht, ihm dieses blöde Messer abzunehmen, aber er hat es sich sofort zurückgeholt.«
»Schwachsinn«, murmelte Alvarez. »Du hattest einfach zu viel Angst, um die Sache bis zum Ende durchzuziehen.«
Da es darauf keine leichte Antwort gab, stellte ich mein Handy aus.
Inzwischen jagte unser Wagen Richtung Norden durch die Vororte, an endlos langen Zeilen heruntergekommener Reihenhäuser vorbei. Alvarez hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Angst hatte mich davon abgehalten, im erforderlichen Maß für meinen Bruder da zu sein. Ich hatte so schon oft Termine bei verschiedenen Ärzten für ihn ausgemacht und versucht, ihn dazu zu bewegen, hinzugehen. Doch alles Locken, Schmeicheln und noch nicht einmal Bestechung hatten irgendwas genützt. Vielleicht hätte ich ihn einfach zwingen sollen, aber schließlich flippte er auch bereits ohne den geringsten Anlass manchmal total aus. Dann war er nicht mehr zu bändigen, trommelte mit seinen Fäusten an die Wand und belegte mich mit allen Schimpfnamen, derer er mächtig war. Was mich dabei so panisch werden ließ, war die Erinnerung an das Verhalten meines Vaters, wenn der auf uns losgegangen war. Seine Krankheit brachte ihn dazu, dass er sich gelegentlich genau wie er benahm. Anscheinend war unsere Kindheit ein hervorragender Trainingsplatz für ihn gewesen. Damals hatte Will ungerührt unzählige Male zugesehen, wie mein Vater ausgerastet war. In betrunkenem Zustand war er regelmäßig innerhalb einer Sekunde völlig ausgeflippt und hatte Will gezeigt, was für eine Freude es ihm machte, mir und meiner Mutter weh zu tun.
Ich massierte mir die Schläfen und versuchte, diese illoyale Überlegung zu verdrängen. Schließlich hatte Will nichts für die Prügeleien gekonnt. Als zwölfjähriger Junge hätte er unmöglich einen ausgewachsenen Mann bekämpfen können, aber er hatte es niemals auch nur versucht.
Das Londoner Hinterland verschwand, und wir fuhren auf die A1. Mein Gehirn nutzte die Chance, den Schlafmangel der letzten Nacht ein wenig auszugleichen, und als ich erwachte, meinte Meads, wir hätten unser Ziel erreicht.
Ich rieb mir die Augen. Rampton sah noch ganz genau so aus wie drei Jahre zuvor. Damals hatte ich die dortigen Psychiater ausführlich dazu befragt, wie sich aus ihrer Sicht die Aggression psychotischer Patienten am erfolgreichsten behandeln ließ. Von der Straße aus kamen einem die auf einer ausgedehnten Fläche verstreuten, einstöckigen Häuser weniger wie die Gebäude einer sorgsam überwachten psychiatrischen Anstalt als vielmehr wie Teile einer Feriensiedlung vor. Wohingegen die Kontrolle an der Einfahrt eher an den Berliner Checkpoint Charlie erinnerte. Schließlich aber winkte man uns durch, und wir fuhren durch etwas, das aussah wie ein Dorf.
Als das Krankenhaus gebaut worden war, hatten alle Angestellten dort gelebt und waren morgens aus ihren hübschen Villen über ausgedehnte Rasenflächen in das Irrenhaus marschiert. Der Leiter hatte sie verwöhnt und ihnen neben einem Schwimmbecken, Tennisplätzen sowie einem Tanzsaal sogar eine Bowlingbahn spendiert. Die Insassen der Anstalt hatten ihre Zeit, meistens isoliert, in Zellen mit gepolsterten Wänden zugebracht. Behandelt hatte man sie quasi nur mit Dopamin, Lithium und Elektroschocks, und in den Siebzigern wäre die Klinik um ein Haar geschlossen worden, weil das Regime nach Aussage der Kontrolleure nicht anders als barbarisch zu nennen gewesen war. Sie hatten dem Personal sämtliche Vergünstigungen streichen und sogar das Schwimmbecken mit Erde auffüllen lassen und dort einen von den Insassen zu pflegenden Garten angelegt.
Meads sah noch mehr als sonst wie ein ängstlicher Chorknabe aus, als er aus dem Wagen stieg. Vielleicht hatte er ja Angst, irgendjemand käme angestürmt und legte ihm eine Zwangsjacke an.
»Was für ein Ort ist das hier überhaupt genau?«, wandte er sich an mich.
»Eine Mischung aus Gefängnis und Krankenhaus. Für Männer und Frauen. Ein paar von ihnen sind geisteskranke Straftäter, und die anderen sind auf ärztliche Anordnung hin hier.«
»Na wunderbar.« Er riss die Augen auf. »Sie haben hier auch diesen Kerl, der die beiden kleinen Mädchen umgebracht hat, oder nicht?«
»Ian Huntley. Jetzt nicht mehr. Inzwischen sitzt er in Wakefield ein, wo er sich zu Tode frisst und qualmt.«
»Geschieht ihm recht«,
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