Im Totengarten (German Edition)
bei der Verfolgung ihres Traums vom Leben auf den Brettern, die die Welt bedeuteten, dazwischenkam.
Wenigstens verlief der Weg zurück in meine Suite ruhiger als der Gang hinunter in den Frühstücksraum. Zwar versuchte Angie tapfer, das Gespräch in Gang zu halten, doch im dritten Stock rang sie erstickt nach Luft, und als wir endlich oben angekommen waren, brauchte sie umgehend eine Tasse Tee, weil sie vollkommen erledigt war. Trotz der Fenster, die vom Boden bis zur Decke gingen, kam der Raum mir schrecklich stickig vor. Offenbar tat die Belüftung nicht viel mehr, als die abgestandene Luft von einem Zimmer in das nächste zu transportieren.
Ich zog mich ins Schlafzimmer zurück, um Angies Hochzeitsplänen zu entfliehen. Offenbar hatten die Brautjungfern für ihre Kleider schwarzblauen Satin gewählt und holten jetzt Erkundigungen bezüglich der Kosten für die Miete einer schicken Limousine ein. Draußen vor dem Fenster hockten ein paar Tauben wie dicke, zufriedene alte Frauen auf einer Bank im Park und bewunderten den Ausblick auf St. Paul’s und Bishopsgate. Sie sahen so aus, als könnten sie den lieben langen Tag dort sitzen, ich hingegen wurde langsam wahnsinnig und sehnte mich danach, die Vorschriften zu ignorieren und wie jeden Tag laufen zu gehen. Ich hatte über Nacht meine ganze Unabhängigkeit verloren und musste mit einem Mal alles, was ich tat, rechtfertigen. Ich konnte nicht mal das Hotel verlassen, um mir eine Zeitung zu besorgen, ohne dass mir jemand auf den Fersen war.
Ich sinnierte gerade über eine Möglichkeit zur Flucht, als das Klingeln meines Handys meine Überlegungen unterbrach.
»Dr. Quentin? Hier spricht Police Constable Meads. Ich bin heute Ihr Chauffeur.«
Das Versprechen, zu dem ich von Burns genötigt worden war, hatte ich vorübergehend vollkommen vergessen, plötzlich aber kam mir der Gedanke, Marie Benson zu besuchen, beinahe verlockend vor.
Denn ich würde alles tun, um nicht den ganzen Nachmittag in diesem Zimmer eingesperrt zu sein und vor Langeweile zu vergehen.
PC Meads erwies sich als der pickelige Jüngling, der mich bereits nach Hause gefahren hatte, als ich nach dem Auffinden der zweiten Leiche stundenlang auf dem Revier gewesen war. Er war so einsilbig wie immer und wirkte in seiner viel zu großen Uniform, als hätte er eine Verkleidung für den Faschingsball an seiner Schule anprobiert. Doch zumindest brachte er mich kurzfristig aus dem Hotel heraus, und der Anblick der vorbeiziehenden Häuser war mir deutlich lieber als ein Raum, in dem ich eingeschlossen war.
Wir hatten kaum die London Bridge erreicht, als Alvarez anrief.
»Tut mir leid, ich kann nicht mit dir sprechen«, schnauzte ich ihn an. »Lola sagt, du hättest ihrem Freund das Leben schwergemacht.«
»Das Leben schwergemacht?«, wiederholte er in ungläubigem Ton. »Ich hätte auch die Birne aus der Fassung schrauben und mich weigern können, ihn aufs Klo gehen zu lassen – aber nein …«
»Etwas in der Richtung hatte ich mir schon gedacht.«
»Warum hast du mich letzte Nacht nicht angerufen?« Am Telefon klang seine Stimme anders, dunkler und so guttural, als schwenke er im nächsten Augenblick auf Spanisch um.
»Auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, hatte ich mit dem Versuch, am Leben zu bleiben, schon mehr als genug zu tun.«
Er atmete hörbar aus. »Ich hätte dich mit zu mir nach Hause nehmen sollen.«
»Aber die Chance hast du verpasst, nicht wahr?«
»Es wird noch eine geben«, sagte er mit einer solchen Zuversicht, als gäbe es kein Gegenargument. »Hör zu, Alice, ich muss wissen, wo dein Bruder seinen Schlüssel zu deinem Apartment aufbewahrt.«
Ich überlegte kurz. Wir fuhren gerade durch Stoke Newington, an einer langen Schlange Grundschüler auf dem Weg in Richtung Clissold Park vorbei, deren Lehrer sich bemühten, alle Nachzügler dazu zu bringen, sich doch bitte wieder einzureihen.
»Normalerweise hat er ihn in seiner Tasche. Weil er schließlich kaum andere Verstecke dafür hat. Warum?«
»Weil gestern Abend jemand eine Tasche bei uns abgegeben hat. Sie lag in der Nähe der Stelle, an der er gefunden wurde, in einem Gebüsch.«
Mein Herzschlag setzte aus. »Graues Segeltuch mit seinem Namen auf der Innenseite?«
»Ja genau. Und, Alice – wir haben eine Waffe darin entdeckt.«
Ich atmete tief durch. »Ein Springmesser mit einem Silbergriff.«
»Du hast etwas davon gewusst.« Alvarez entfuhr ein leiser Fluch. »Welcher Mensch, der noch bei Sinnen ist, lässt zu,
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