Im Wald der stummen Schreie
entschuldigen, ihr einen anderen Termin vorzuschlagen ... Keine Nachricht. Sie brach in Tränen aus.
Claire hielt ihr hastig ein Kleenex hin.
»Sie dürfen sich das nicht zu Herzen nehmen«, sagte sie, den Grund verkennend. »Es gibt viel Schlimmeres.«
Jeanne nickte. Sunt lacrimae rerum. »Es gibt Tränen für unser Unglück«, wie ihr Mentor Emmanuel Aubusson zu sagen pflegte.
»Sie müssen sich beeilen«, sagte ihre Mitarbeiterin. »Sie haben eine Verhandlung.«
»Und danach? Ein Mittagessen?«
»Ja, mit François Taine im Usine . Um eins.«
»Mist.«
Claire drückte ihr die Schulter.
»Das sagen Sie jedes Mal. Und dann kommen Sie um halb vier satt und zufrieden zurück.«
4
»Hast du sie gelesen?«
Jeanne wandte sich zu der Stimme um. Halb eins. Sie war unterwegs zum Ausgang gewesen und träumte von einer kalten Dusche, während sie die Knauserigkeit der Justizbehörden verfluchte – Tag für Tag fiel die Klimaanlage im Gerichtsgebäude aus.
Stéphane Reinhardt ging hinter ihr. Der Mann hatte ihr am Vorabend die obskure Akte angedreht. Leinenhemd, Umhängetasche: Er wirkte stets ebenso zerknittert wie sexy.
»Hast du sie gelesen oder nicht?«
»Ich hab nichts verstanden«, gestand sie und ging weiter.
»Aber dir ist klar, dass das ein heißes Eisen ist?«
»Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen. Und dann, eine anonyme Anzeige ... Man muss die Fäden miteinander verknüpfen.«
»Genau das sollst du ja tun.«
»Ich kenn mich weder im Waffenhandel noch bei Flugzeugen aus. Ich wusste nicht einmal, dass Osttimor ein Land ist.«
»Es ist der Ostteil einer indonesischen Insel. Ein souveräner Staat. Einer der brisantesten Konfliktherde weltweit.«
Sie hatten die Sicherheitsschleusen erreicht. Die Halle war sonnendurchflutet, die Sicherheitsleute wirkten völlig verschwitzt. Reinhardt grinste. Mit seiner lässigen Aktentasche glich er einem coolen Lehrer, der jederzeit mit seinen Schülern einen Joint rauchen würde.
»Was eine Cessna ist, weiß ich auch nicht«, sagte sie trotzig.
»Ein ziviles Flugzeug ohne besonderes Kennzeichen, das automatische Waffen transportiert! Waffen, die bei einem Putschversuch eingesetzt wurden!«
Genau das hatte sie am Vortag gelesen, ohne sich jedoch
in den Bericht zu vertiefen. Sie hatte gar nicht erst versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Im Moment wartete sie vor allem auf einen Anruf – wie schon den ganzen Tag lang. Alles andere ...
»Die Sache mit der angeblichen Waffenlieferung«, meinte sie scheinbar interessiert, »hat mich nicht überzeugt. Wie können wir sicher sein, dass es sich tatsächlich um französische Gewehre handelt? Und wieso sollen sie ausgerechnet von dieser Firma produziert worden sein?«
»Hast du denn den Bericht nicht gelesen? Die Waffen wurden bei erschossenen Aufständischen gefunden. Halbautomatische Gewehre der Marke Scorpio. Mit Standardmunition der NATO vom Kaliber 5.56. Nicht zu vergleichen mit der üblichen Bewaffnung von Rebellen in einem armen Land. Waffen, die ausschließlich von EDS Technical Services hergestellt werden.«
Jeanne zuckte mit den Achseln.
»Hattest du nicht den Eindruck, dass der anonyme Briefschreiber bestens informiert ist?«, fuhr der Richter fort.
»Besser als ich jedenfalls. Ich habe nicht einmal von diesem Putsch gehört.«
Reinhardt zog ein betrübtes Gesicht.
»Niemand hat davon gehört. So ist es mit allem, was Osttimor betrifft. Aber im Internet findet man alles. Im Februar 2008 haben Rebellen einen Mordanschlag auf José Ramos-Horta, den Präsidenten des Landes, verübt. Der Mann wurde 1996 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Ein Nobelpreisträger, der durch französische Sturmgewehre schwer verletzt wurde! Mist, ich weiß nicht, worauf du noch wartest. Einmal ganz abgesehen von dem politischen Aspekt dieses Falls. Mit den Gewinnen aus diesem Waffengeschäft wurde eine französische Partei finanziert!«
»Die ich nicht kannte.«
»Eine im Entstehen begriffene Partei – der Rechten! Das ist ein wasserdichter Fall. Du salzt, du pfefferst und du servierst ihn uns schön heiß. Das ist doch genau deine Kragenweite, oder?«
Jeanne war von jeher Sozialistin gewesen. Früher hatte ihr Aubusson wiederholt gesagt: »Wenn man jung ist, steht man politisch links. Mit den Jahren rückt man dann unwillkürlich nach rechts.« Sie war noch nicht alt genug für einen politischen Wechsel. Im Übrigen war auch Aubusson links geblieben.
Reinhardt durchschritt die
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