Im Westen geht die Sonne unter
gesehen hatte. Wo blieb Jessie? Es schien niemandem aufzufallen, dass sie schon ungebührlich lange in der Kälte draußen telefonierte.
»Ich seh mal nach«, sagte er plötzlich, ohne dass es jemand hörte. Er stand auf und ging zur Tür. Kaum hatte er sie aufgestoßen, stürzte sie auf ihn zu, schlüpfte in den Flur hinein und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Ich – wollte nachsehen, wo du steckst«, stammelte er. Als er ihr kreideweißes Gesicht sah, erschrak er. »Was hast du? Was ist passiert?«
»Ma hat angerufen. Ihr Bruder – Onkel George in Kalifornien.« Sie stockte, schaute ihn ratlos an, dann sagte sie mit belegter Stimme: »Onkel George ist gestorben. Ein Unglück im Bergwerk – eine Explosion. Ma ist völlig durcheinander. Ich muss nach Weymouth zurück.«
»Ich fahr dich«, antwortete er sofort. Nicht nur ihre Mutter war durcheinander, dachte er. George war tot. George, der Rebell, den er als Junge ab und zu gesehen, aber nicht wirklich gekannt hatte. Sie verabschiedeten sich kurz von der zunehmend fröhlicheren Runde und gingen zum Wagen.
»Lieb von dir«, sagte sie, nachdem sie eine Weile dem einschläfernden Quietschen des Scheibenwischers zugehört hatten.
»Nicht der Rede wert.« Es bereitete ihm keine Mühe, an seiner Wohnung in Bristol vorbeizufahren. Im Gegenteil, die zwei zusätzlichen Stunden hinunter an die Küste waren viel zu kurz. Am liebsten wäre er den ganzen Tag mit ihr durch den Regen gegondelt. »Dieser George, kanntest du ihn gut?«, fragte er, um von den tragischen Umständen seines Todes abzulenken.
»Geht so. Er war viel unterwegs, und niemand wusste so recht, was er trieb, bis er auswanderte. Das schwarze Schaf der Familie.«
»Verstehe. Nicht gerade der Sohn, den sich ein Vater wünscht, oder so ähnlich.«
Sie schmunzelte. »Ja, davon kannst du ja auch ein Lied singen, glaube ich. Aber Ma stand ihrem jüngeren Bruder sehr nahe. Sie war wohl eine Art zweite Mutter für ihn. Hat ihn trotzdem nicht lange in Weymouth gehalten.«
»Im Gegensatz zu dir«, lachte er. »Ich fürchte, du schlägst dort Wurzeln.«
»Was dagegen?«, gab sie gereizt zurück.
»Nein, natürlich nicht. Es ist eine schöne Gegend, nur fehlt die passende Uni.«
»Die braucht zum Glück nicht jeder.«
Er warf ihr einen betroffenen Blick zu. »He, tut mir leid, ich wollte ...«
»Schon gut. Ich muss mich entschuldigen. Die Nachricht hat mich wohl doch etwas aus der Bahn geworfen. Schade um deine schöne Vorstellung. Die war wirklich Spitze.«
Er grinste zufrieden. »Hätte besser sein können, aber wenn du es sagst.« Sie hatte ihn unaufgefordert gelobt, und ihrem Gesicht nach zu urteilen, meinte sie es ehrlich. Was wollte er mehr? Ach ja, fast hätte er es vergessen: Punkt zwei. Den würde er heute wohl nicht mehr abhaken.
Macao, Volksrepublik China
Der Airbus der ›Air Macau‹ mit dem eidottergelben Rumpf setzte zur Landung an. Danny Chen saß zusammengesunken in seinem unbequemen Sessel dösend am Fenster. Der Anflug auf die scheinbar im Meer schwimmende Piste vor der Insel Taipa mit der Skyline der glitzernden Kasinowelt am Horizont beeindruckte ihn nicht mehr. Der kurze Flug von Taipeh nach Macao war für ihn längst zur Routine geworden. Mindestens jeden Monat, manchmal jedes Wochenende, saß er in einem solchen Flugzeug und kannte nur ein Ziel: so schnell wie möglich ins ›New Century‹ im Norden der Insel. Das alte Taipa-Village, die schöne Architektur der früheren Kolonialherren, die belebten Gassen und schattigen Plätze, die sich ebenso gut in der Altstadt von Faro hätten befinden können, all das reizte ihn nicht im geringsten. Ihn zogen nur die Spielhöllen des chinesischen Las Vegas an. Danny war spielsüchtig. Er wusste es, und er hatte vor langer Zeit aufgegeben, sich darüber aufzuregen. Schließlich litt niemand darunter, höchstens er selbst von Zeit zu Zeit. Als gut verdienender Elektronik-Ingenieur und leidenschaftlicher Single konnte er sein Geld zum Fenster hinauswerfen, wann und wo er wollte. Macao war nur einen Katzensprung von Taiwan entfernt, wo er lebte und arbeitete. Er machte am Freitag etwas früher Schluss im Büro und stand kurz nach sechs schon in der Lobby des ›Century‹. Taipeh und Macao lagen in der gleichen Zeitzone, es herrschte sogar meistens die gleiche Temperatur, die gleiche Luftfeuchtigkeit, das gleiche langweilige Wetter. Und die Leute verstanden seinen taiwanischen Dialekt ohne Probleme. Er brauchte sich in
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