Im Westen geht die Sonne unter

»Wahrscheinlich nur ein dummer Scherz«, murmelte er abwesend. Er hielt immer noch den zerknüllten Zettel in seiner Faust und beobachtete angestrengt die Umgebung. Sie saßen im Bus, der in sicherer Entfernung vom Pub parkte. Vier Uhr verstrich wie erwartet ohne Explosion. Er pflichtete Irwyn im Stillen bei. Dieses massive Polizeiaufgebot ließ den Gangstern gar keine andere Wahl, als möglichst unauffällig das Weite zu suchen. Beruhigend wirkte der Gedanke trotzdem nicht. Man müsste sie jetzt kriegen, dachte er grimmig und wusste plötzlich, was zu tun war.
    Er sprang auf, sagte hastig zu Jessie: »Bin gleich zurück«, und rannte nach vorn zu den zwei uniformierten Begleitern. »Ich muss sofort den Einsatzleiter sprechen«, keuchte er aufgeregt. »Ich glaube, ich weiß, woher die Bombendrohung stammt.« Er zeigte den Zettel mit den chinesischen Schriftzeichen. »Der ist mir vor einer halben Stunde zugesteckt worden.«
    Es kostete Nerven und Zeit, bis er die Beamten soweit hatte, dass sie nicht mehr in erster Linie an seinem Verstand zweifelten, sondern die Möglichkeit ins Auge fassten, der Papierfetzen könnte eine Spur sein. Er gab ihnen ein möglichst genaues Beschreibung des Bullen, den er zuletzt in den Schweizer Alpen mit dem Koffer außer Gefecht gesetzt hatte. Das und der Hinweis auf MI5 überzeugte den Einsatzleiter, die erhoffte Ringfahndung auszulösen.
    »Die Leute sind professionelle Killer, äußerst gefährlich«, warnte er eindringlich.
    Jessie hatte die letzten Worte mitgehört. »Killer? Was ...«
    Er erstickte ihre Frage mit einem schnellen Kuss auf den Mund. Die Fahndung nach dem unsichtbaren Gegner lief. Seiner Meinung nach waren sie in Sicherheit. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Es war wieder einmal an der Zeit, seiner Gattin die Wahrheit zu sagen.
    »Die werden uns nicht mehr gefährlich«, schloss er den beunruhigenden Bericht. Es klang eher, als wollte er sich selbst überzeugen.
    Die Stimmung unter den wartenden Hochzeitsgästen war schon beinahe wieder auf dem Höhepunkt, als der Bombenalarm endlich aufgehoben wurde. Unter Triumphgeheul zog die Schar zurück in die heimelige Gaststube des ›Black Dog‹. Das Fest hatte gerade erst begonnen.
    »Ich habe mit dem DI gesprochen«, flüsterte ihm Irwyn ins Ohr, während er ihn etwas beiseite zog.
    »Worüber?«
    »Er ist auch meiner Meinung.«
    »Mach’s nicht so spannend.«
    »Unter diesen Umständen kann man euch nicht allein im Zug nach Southampton fahren lassen. Er stellt euch einen Dienstwagen zur Verfügung, damit ihr sicher aufs Schiff kommt. Die Züge fahren sowieso mit massiver Verspätung.«
    Ryan glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Eine Polizeieskorte?«, rief er laut vor Schreck.
    Irwyn schüttelte grinsend den Kopf. »Ein Polizeitaxi, würde ich eher sagen. Damit ihr rechtzeitig aufs Schiff ...«
    »Heiliges Kanonenrohr, Irwyn«, stöhnte Ryan in gespielter Verzweiflung. »Rechtzeitig aufs Schiff – muss das denn unbedingt sein?«
    Die Kreuzfahrt war nicht mehr zu verhindern. Dafür würde nun die Staatsgewalt sorgen. Mit einem Mal war das beklemmende Gefühl in seinem Magen wieder da. Daran änderte auch die frohe Nachricht von der Verhaftung des Bullen nichts mehr.

Hansjörg Anderegg
     
    wurde 1947 in St. Gallen in der Schweiz geboren und wuchs dort auf. Nach einer Lehre als Chemielaborant und der Matura begann er an der ETH Zürich mit dem Studium der Mathematik und Physik, das er als Mathematiker abschloss.
     
    Er arbeitete anschließend während über dreißig Jahren in Europa, den USA und Asien als Computerfachmann und Manager in der Entwicklung, Beratung und dem Verkauf von Software für wissenschaftliche, technische und finanzanalytische Anwendungen.
     
    Seine Erfahrungen verarbeitet er als Autor von Kriminalromanen und Thrillern mit technisch-wissenschaftlichem Hintergrund.
     
    Hansjörg Anderegg ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.
     
    2010 erschien sein erster Roman „Das Komplott der Senatoren“, ein Umwelt-Thriller, im AAVAA-Verlag.

 
    Alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind
    in den Formaten Taschenbuch, Mini-Taschenbuch,
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