Im wilden Meer der Leidenschaft
Grund sie nicht benennen konnte. Doch schien sie sich nicht gegen sie zu richten. Stattdessen lächelte er sie an und zeigte ihr sein Buch über die Schifffahrt, überrascht, dass sie Spanisch lesen konnte. Seit diesem ersten Treffen stieg Bianca jedes Mal, wenn Ermano kam, zu Balthazar hinunter, um mit ihm zu reden, zu erfahren, was er las, und um mit ihm über die Wunder der Welt außerhalb Venedigs zu sprechen – über den Glanz und die Pracht Englands, Spaniens, Frankreichs, des Osmanischen Reiches und sogar der neu entdeckten Inseln jenseits des Meeres.
Bianca hatte noch nie jemanden von solchen Dingen reden hören, und sie war fasziniert von diesem Ausblick auf eine neue Welt. Fasziniert auch von Balthazar selbst, von dem winzigen Einblick, den er ihr in seine Wünsche und Träume gewährte, die so tief unter seiner glanzvollen und sorglosen Fassade verborgen lagen. Von dem brennenden Verlangen, alles hinter sich zu lassen und in eine freie, ungewisse Zukunft aufzubrechen.
Doch diese neuen Möglichkeiten, die sich außerhalb ihrer vorgezeichneten Existenz auftaten, und der eigenartige junge Mann ängstigten sie auch.
„Warum“, fragte sie ihn einmal, „würdest du Venedig verlassen wollen? Du hast doch hier alles, was man sich erhoffen kann.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand mehr vom Leben erhoffen könne als all das, wovon Balthazar reichlich besaß: Reichtum, Ruhm, einen alteingesessenen Familiennamen. Konnte sich nicht vorstellen, dass man von einem anderen Ort als Venedig träumen könne, der Stadt, die eine Welt für sich war, goldglänzend und auf Wasser erbaut. Sie selbst würde gewiss eines Tages heiraten und sich um ihre Familie kümmern, ihrem Mann helfen, sein Geschäft zu führen, und ihren häuslichen Pflichten nachgehen. Ihr einziger Trost war, dass sich dieses Leben in Venedig abspielen würde.
Auch Balthazar hatte keinen Grund, die Stadt zu verlassen und sein Glück in der neuen Welt zu suchen. Alles war ihm hier in die Wiege gelegt worden: Reichtum, Ruhm, Anerkennung. Wieso wollte er all das hinter sich lassen?
Doch er lächelte nur liebevoll und traurig und blickte sie aus seinen erfahrenen Augen an, die schon zu viel gesehen hatten. Viel zu viel. „Komm mit mir, Bianca“, sagte er und ergriff ihre Hand. Es war das erste Mal, dass er sie berührte und seine kühlen und starken Finger über die ihren legte. Eine plötzliche Welle wohligen Glücks durchflutete sie, die selbst bei dieser unschuldigen Berührung ihre Sinne übermannte. Sie behielt seine Hand fest in der ihren, bereit, ihm überallhin zu folgen, und sei es in die Tiefen der Hölle.
Doch er führte sie nicht ins Fegefeuer, sondern zum Ufer des nächsten Kanals, wo die Gondel seines Vaters wartete. Menschen hasteten an ihnen vorüber: Mägde mit ihren Marktkörben, ernste Patrizier in langen schwarzen Röcken, die den Staatsgeschäften nachgingen, in Satin gehüllte Kurtisanen, die Balthazar verführerisch anlächelten. Bianca sah und hörte sie alle nicht. Sie fühlte sich, als sei sie im Bann eines lautlosen, sonnendurchfluteten Zaubers. Sie war mit Balthazar zusammen, dessen Wärme und frischer, salziger Geruch nach Meer den Lärm und Trubel der Außenwelt von ihr fernhielten.
„Siehst du das Wasser?“, fragte er und zeigte auf den Kanal, der zu ihren Füßen floss.
Bianca nickte abwesend. Natürlich sah sie es! Jeden Tag ging sie während ihrer Besorgungen an ihm entlang. Ein ganz gewöhnlicher Kanal wie jeder andere hier in Venedig. Vielleicht etwas übel riechend, aber ansonsten nicht erwähnenswert. Ein ganz gewöhnlicher Verkehrsweg.
„Nein, sieh’ genau hin“, sagte Balthazar. Er zog an ihrer Hand, und sie blickte hinunter ins Wasser. Es lag völlig ruhig da, mit glatter Oberfläche, die nicht von vorbeifahrenden Gondeln aufgewühlt war, und ähnelte einem schimmernden Strudel aus blauer, violetter, grüner und ölig-schwarzer Farbe. Etwas Treibgut schwamm darauf, auch einige Flaschen, Gemüsereste und tote Ratten. Der Winter hatte sich angekündigt, und die kalte Luft überdeckte den üblichen süßlich-faulen Geruch.
„Auf was soll ich schauen?“, flüsterte Bianca, und er musste lachen.
„Was wir hier sehen, ist nur die Fassade der Stadt“, sagte er. „Die beeindruckenden Kirchen und Palazzi, die Juwelen und seidenen Gewänder, die Reichtümer, um die uns die Welt beneidet. Aber hinter dieser Fassade …“
Bianca beobachtete die langsame Strömung des Wassers, die
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