Im wilden Meer der Leidenschaft
ineinander vermischten dunklen Regenbogenfarben, die den Abfall und die Verwesung tief unten verbargen. „Kadaver? Unrat?“
Balthazar sah sie eindringlich an. Das Sonnenlicht spiegelte sich in seinem edlen Smaragd-Ohrring, der grüngelb in seiner kunstvollen Fassung funkelte. Auch dieser Edelstein war Teil der Maskerade. Balthazar war wie die tiefen Wasser Venedigs, wie die Stadt selbst. Versteckt unter seinem blendenden Aussehen lag seine verwundete Seele.
„Genauso ist es, Bianca“, sagte er leise. „Tod und Verwesung. Lüge und Unredlichkeit wohin man auch blickt.“
„Aber kann man davor wirklich weglaufen?“, fragte Bianca und dachte dabei an seine Bücher über weite Reisen, Abenteuer und die neue Welt. „Können wir das hinter uns lassen? Wohin wir auch gehen, wir bleiben doch wir selbst.“
„Natürlich“, sagte er. „Wir können lediglich versuchen, uns zu läutern und der Wahrheit nahe zu kommen. Wir müssen unsere Seelen reinigen. Nur dann können wir uns von unseren Schattenseiten befreien, von dem, was wir vor der Welt verbergen. Wir müssen um jeden Preis nach der Wahrheit suchen.“
Um jeden Preis nach der Wahrheit suchen . In diesem Augenblick faszinierte Balthazar sie wie nie zuvor, doch gleichzeitig verspürte sie Angst. Für einen kurzen Moment tauchte sie in seine Seele ein, die so undurchschaubar und verborgen wie die Tiefen des Wassers war. Doch im Bruchteil einer Sekunde war alles wieder hinter seinem Lächeln verschwunden. Er hielt ihre Hand noch fester als zuvor und begleitete sie zurück nach Hause, wo er ihr galant einen Kuss auf die Fingerspitzen hauchte, bevor sie sich in die Sicherheit ihrer Kammer flüchtete.
Mehrere Tage waren seit dieser letzten Begegnung vergangen, und Bianca hatte seitdem nur flüchtige Blicke auf ihn erhascht. Die Karnevalssaison war nun in vollem Gang, und er musste seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen. Er war Gast auf sämtlichen Feierlichkeiten der Stadt, auf Banketten, Bällen und Festen in samtgepolsterten Gondeln mit bildschönen blonden Kurtisanen. So hatte Bianca ihn mit der stadtbekannten Rosina Micelli gesehen, den Kopf gegen die goldbestickten Kissen gelehnt, mit geschlossenen Augen und einem amüsierten Lächeln, während Rosina ihm etwas ins Ohr flüsterte und ihm dabei mit ihrer juwelenbesetzten Hand über die Haare strich.
Sein Vater und er waren bis heute nicht mehr zu ihrem Haus gekommen. Gerüchten zufolge machte Ermano der Parfümeurin Julietta Bassano den Hof, und Balthazar wurde in Freudenhäusern und beim Glücksspiel gesichtet. Als Bianca ihn nun von oben aus ihrem Fenster sah, wusste sie nicht, was sie denken oder tun sollte.
Obwohl sie seit Tagen nicht mit ihm gesprochen hatte, dachte sie ohne Unterlass an seine mysteriösen Äußerungen über Verfall und Wahrheit, bis sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Sie sehnte sich so sehr danach, ihn zu fragen, was er damit gemeint hatte, und wünschte sich nichts sehnlicher, als einen weiteren Einblick in die Geheimnisse seines Herzens erlangen zu können und ihm ihre eigenen zu offenbaren.
Doch gleichzeitig verspürte sie den Drang, vor ihm zu fliehen! Vor ihm und den gefährlichen Wahrheiten, die er ihr wie Smaragde offerierte.
Bianca ließ den Vorhang wieder zufallen und drehte sich zu dem kleinen, zerbrechlichen Spiegel an der Wand um. Sie war zu dünn, und ihr lockiges braunes Haar wurde auch durch die ständige Behandlung mit Zitronensaft nicht heller. Ihre Wangen waren schmal, ihre Augen zu groß für ihr Gesicht, ihre Schultern zu knochig, und von einem Busen war bei ihr nicht viel zu sehen. Aber als sie nun daran dachte, dass Balthazar Grattiano sich in ihrer Nähe befand, färbte ihre blasse Haut sich mit einem rosigen Schimmer, und ihre braunen Augen leuchteten.
Dabei war er wirklich ein seltsamer und erschreckender Mensch, unvorhersehbar und undurchschaubar. Er glich niemand anderem, den sie kannte. Wenn sie klug war, würde sie sich von ihm fernhalten, von ihm und der gefährlichen Grattiano–Familie. Aber Balthazar vermittelte ihr das Gefühl, lebendig und voller Enthusiasmus zu sein; er kam ihr vor wie Sonnenschein an einem grauen, kalten Tag. Und sie konnte sich nicht von diesem wärmenden Licht abwenden.
Es würde sowieso nicht lange dauern, bis er aus ihrem Leben verschwand. Egal, was er über Freiheit und Wahrheit und über die ferne neue Welt sagte, er würde doch eine elegante Patrizierdame heiraten und die ihm auferlegten
Weitere Kostenlose Bücher