Im Zauber der Gefuehle
gewesen.
Fluchend warf Nick sich im Fall auf den nächsten Balken und erwischte ihn tatsächlich mit den Fingerspitzen. Er umklammerte das Holz, und schließlich gelang es ihm, die Arme darum zu schlingen. Holzsplitter und morsche Bretter fielen mit ohrenbetäubendem Lärm in die Tiefe, während ein stechender Regen aus Staub und pulverisiertem Holz Nicks Augen tränen ließ. Keuchend mühte er sich ab, sich auf den Balken zu ziehen, doch da traf ihn wie aus dem Nichts ein heftiger Schlag in den Rücken, sodass er beinahe abgestürzt wäre. Nick stöhnte halb vor Schmerz, halb aus Überraschung und blickte in Follards triumphierendes Gesicht empor.
Ein teuflisches Grinsen zog sich über die schmalen Züge des Verbrechers. »Ich schick dich in die Hölle, Gentry«, sagte er und wagte sich noch ein Stück weiter auf den Balken, um mit dem Stiefel auf Nicks Hand zu treten. Nicks Fingerknochen knackten, und seiner Kehle entfuhr ein schmerzverzerrtes Grollen.
Follard lachte, als hätte er den Verstand verloren.
»Eins«, rief er. »Zwei!« Wieder trat er langsam und kraftvoll zu, sodass ein stechender Schmerz Nicks Arm entlangschoss. Follard hob erneut den Stiefel und machte sich bereit, seinem Verfolger den Todesstoß zu versetzen.
»Drei«, stieß Nick keuchend hervor, griff blitzschnell nach Follards Knöchel und zog so heftig daran, dass dieser das Gleichgewicht verlor.
Mit einem schrillen Schrei verlor Follard das Gleichgewicht und stürzte zwei Stockwerke tief in den Tod.
Nick wagte nicht, nach unten zu blicken, sondern konzentrierte sich verzweifelt darauf, sich auf den Balken emporzuziehen. Unglücklicherweise hatten seine Kräfte nachgelassen, und die linke Hand war so gut wie unbrauchbar. Nick krümmte sich wie ein Wurm am Haken, während er hilflos über dem tödlichen Nichts baumelte.
Ungläubig musste er schließlich einsehen, dass er sterben würde.
Das Schreiben in Lotties Hand zitterte, als sie es erneut las.
Lottie,
Bitte hilf mir. Mama sagte, Lord Radnor würde kommen, um mich zu holen. Ich möchte nicht mit ihm gehen, doch sie und Papa sagen, dass ich muss. Sie haben mich in mein Zimmer gesperrt, bis er kommt. Ich kann nur beten, dass du es nicht zulassen wirst, Lottie, da du meine einzige Hoffnung bist.
Deine Dich liebende Schwester Ellie
Ein Dorfjunge hatten den tränenverschmierten Brief überbracht, kurz nachdem Nick am Morgen aufgebrochen war. Der Junge behauptete, Ellie habe ihm die
Nachricht durch das Schlafzimmerfenster zugeworfen. »Sie sagte, wenn ich Euch den Brief überbringe, kriege ich ein halbe Krone«, sagte er und trat unbehaglich von einem Bein auf das andere, als bezweifle er, dass das Versprechen eingehalten werden würde.
Lottie gab ihm das Doppelte und schickte ihn dann in die Küche zu Mrs. Trench, die ihm eine warme Mahlzeit vorsetzen sollte. Unruhig ging sie in der Eingangshalle auf und ab und biss nervös auf ihren Fingerknöcheln, während sie überlegte, was zu tun sei. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wann Nick zurück sein würde, doch wenn sie zu lange wartete, würde Radnor Ellie vielleicht schon geholt haben.
Die Vorstellung war so schrecklich, dass Lottie die Hände zu Fäusten ballte und einen Wutschrei ausstieß. Ihre Eltern ließen es zu, dass Radnor kam und die arme, unschuldige Ellie abholte ... als sei sie ein Stück Vieh, das den Besitzer wechselte. »Sie ist erst sechzehn!«, stieß sie aufgebracht hervor, wobei ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Wie können sie nur? Wie können sie mit diesem Wissen leben?«
In der Nachricht hatte nichts von einer geplanten Heirat gestanden, woraus Lottie unweigerlich schloss, dass ihre Eltern sie kurzerhand verkauft hatten. Bei dem Gedanken wurde ihr übel.
Nein, sie konnte nicht auf Nick warten, sondern würde Ellie selbst holen, bevor Radnor eintraf. Sie war wütend auf sich selbst, dass sie es nicht schon längst getan hatte, doch wer hätte vorhersehen können, dass Radnor auf einmal Ellie wollte oder dass ihre Eltern sie ihm einfach so aushändigen würden?
»Harriet!«, rief sie durchdringend und zog außer sich am nächsten Klingelzug. »Harriet!«
Das dunkelhaarige Dienstmädchen erschien sofort, die Brille vom Laufen schief auf der Nase. »Mylady?«
»Holen Sie mir meinen Reisemantel und die Haube.« Nach kurzem Überlegen entschied sie, dass Daniel, der größte und stärkste Lakai im Haus, Nick in dessen Abwesenheit am besten ersetzen würde. »Geben Sie Daniel Bescheid, er soll mich
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