Im Zauber der Gefuehle
war.
Nick steckte die Hände in die Hosentaschen und warf Sayer einen Seitenblick zu. Der Runner dachte offensichtlich an nichts anderes als Dick Follard, ganz so, wie er sollte. Nicht ablenken lassen, warnte Nick sich selbst, als schon die nächste Stimme in seinem Kopf laut wurde: »Es kommt jedoch der Zeitpunkt, wenn ein Mann sein Schicksal oft genug herausgefordert hat, und sollte er zu stur oder zu dumm sein, das einzusehen, wird er diesen Irrtum mit seinem Blut bezahlen. Ich wusste, wann ich aufhören musste. Und Ihr müsst das auch ...«
Tatsächlich war es an der Zeit aufzuhören, obgleich es Nick bis zu diesem Augenblick nicht bewusst gewesen war. Nachdem er Sayer in dieser Sache geholfen hatte, würde er seine Identität als Runner endlich vollständig an den Nagel hängen und sich selbst ein weiteres Mal neu erfinden. Dieses Mal als Lord Sydney ... ein Mann mit Ehefrau, einem Zuhause und vielleicht eines Tages ein paar Kindern.
Die Vorstellung, dass Lottie dereinst schwanger von ihm sein könnte, verursachte ihm ein süßes Brennen in der Brust. Endlich begann er zu begreifen, weshalb es Sir Ross so leicht gefallen war, seinen Dienst als Polizeichef zu quittieren, sobald er geheiratet hatte, und warum Morgan seine Familie über alles andere stellte.
»Gentry«, murmelte Sayer. »Gentry?«
Tief in Gedanken versunken, horchte Nick erst auf, als Sayer ihn noch einmal ansprach.
»Sydney!«
Nick warf ihm einen forschenden Blick zu. »Ja?«
Sayer runzelte die Stirn. »Bleib bei der Sache. Du wirkst ein bisschen zerstreut.«
»Alles in Ordnung«, erwiderte Nick kurz angebunden, obwohl ihm bewusst war, dass er tatsächlich mit den Ge-danken woanders gewesen war. Hier an diesem Ort konnte das ein tödlicher Fehler sein.
Als sie sich in das Armenviertel wagten, blickte Nick forschend um sich und versuchte sich an das zu erinnern, was er über das Labyrinth aus Gassen, Tunneln und Verbindungen zwischen den Gebäuden wusste. Er strich sich mit der Hand über die Brust, um sich des mit Eisen gefüllten Lederknüppels zu vergewissern, den er in der Tasche seines Jacketts bei sich trug.
»Lass uns mit den Häusern an der Nordseite der Straße anfangen«, sagte Nick. »Am besten arbeiten wir uns bis zur Straßenecke vor.«
Sayer nickte, wobei ihm die Anspannung ins Gesicht geschrieben stand.
Systematisch durchsuchten sie ein Haus nach dem anderen und befragten kurz diejenigen Bewohner, die wirkten, als könnten sie etwas wissen. Die Zimmer und Gänge waren schlecht beleuchtet, vor allem aber überfüllt und voller Gestank. Nick und Sayer trafen auf keinerlei Widerstand, obgleich sie überall mit misstrauischen und feindseligen Blicken bedacht wurden.
In einem Laden am Ende der Straße, der in Wirklichkeit eine Falschmünzerei beherbergte, bemerkte Nick das verräterische Aufleuchten in den Augen eines alten Mannes, als Follards Name fiel. Während Sayer den Laden durchsuchte, trat Nick mit einem forschenden Blick auf den Mann zu.
»Weißt du etwas über Follard?«, fragte Nick freundlich und zupfte sich mit der rechten Hand am linken Ärmel, ein Zeichen, das in der gesamten Londoner Unterwelt bekannt war und dem Gegenüber Bezahlung für brauchbare Informationen versprach.
Die papierdünnen Lider des Mannes senkten sich über seine gelblichen Augen, während er über das Angebot nachsann. »Vielleicht.«
Nick ließ ein paar Münzen in die offene Hand des Alten fallen, dessen runzlige Finger sofort das Geld fest umschlossen. »Wo finde ich ihn?«
»Vielleicht ist er im Ginladen in der Melancholy Lane.«
Zum Dank nickte er dem alten Mann zu und bedeutete dann Sayer, dass es Zeit zu gehen war.
Sobald sie das Geschäft verlassen hatten, eilten sie in die Melancholy Lane, die nur zwei Straßen weiter von Hanging Ax Alley gelegen war. Wie die meisten Ginspelunken in der Nähe von Fleet Ditch war der Laden schon am Vormittag gepackt voll mit Betrunkenen, die am Boden saßen und im Vollrausch ins Leere starrten. Nachdem sie sich kurz abgesprochen hatten, ging Nick zum Eingang, während Sayer sich zur Rückseite des heruntergekommenen Gebäudes aufmachte, um den Hinterausgang zu suchen.
Sobald Nick die Spelunke betrat, setzte aufgebrachtes Gemurmel ein. Unglücklicherweise verhinderten Größe und Körperbau eines Runners normalerweise, dass er sich unauffällig unters Volk mischte. Hinzu kam, dass Nick sich in der Unterwelt unzählige Feinde gemacht hatte, als er sich gegen seine ehemaligen Komplizen gewandt
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