Imagica
Sie war ihm nicht so blind ergeben, um zu bestreiten, daß die Gerüchte keine Wahrheit enthielten. Hinzu kam: Er versuchte nicht einmal, ihnen zu widersprechen. Allem Anschein nach fand er Gefallen daran, als legendär zu gelten. Zum Beispiel behauptete er, nur vage Vorstellungen von seinem eigenen Alter zu haben, und es fiel ihm ebenso schwer wie Judith, der Vergangenheit einen festen Platz in seinem Gedächtnis einzuräumen. Er gab ganz offen zu, von Frauen besessen zu sein, und dabei waren ihm alle recht, junge ebenso wie alte. Angeblich schreckte er nicht einmal davor zurück, im Todesbett zu bumsen.
Gentle: ein Mann, den die Portiers aller exklusiven Nachtklubs und Hotels in der Stadt kannten, bei dem die Ausschweifungen zehn langer Jahre keine Spuren hinterließen, der noch immer wach, attraktiv und vital war. Dieser Gentle 33
behauptete, daß er Judith liebte, und er beteuerte dies mit solcher Überzeugungskraft, daß sie ihm glaubte und alle warnenden Stimmen überhörte.
Vielleicht hätte sie ihm auch weiterhin geglaubt, wenn nicht der Zorn gewesen wäre, aus dem ihre eigene Legende bestand.
Es handelte sich um etwas Unberechenbares und Impulsives, das in Jude wuchs, ohne sich ihrem Oberbewußtsein zu verraten. So geschah es auch bei Gentle. Nachdem sie seine Zuneigung ein halbes Jahr lang genossen hatte, regten sich Zweifel in ihr: Konnte jemand, der die Untreue zum Prinzip erhob, eine so krasse Kehrtwendung vollziehen? Dieser Gedanke führte zu einem anderen: Vielleicht trog der äußere Schein; vielleicht war John Furie Zacharias noch immer der alte und ewig junge Gentle. Es gab keinen Grund für Judith, ihm zu mißtrauen. Gelegentlich grenzte seine Liebe an Zwanghaftigkeit, als sähe er in ihr eine Frau, die ihr selbst fremd war, eine Art Seelenfreundin. Sie vermutete, sich von allen anderen Frauen zu unterscheiden, die er bisher kennengelernt hatte, ihm völlig neue Erfahrungen zu er-möglichen, die sein bisheriges Leben änderten. Wenn sie das Bett miteinander teilten... Bestimmt hätte sie gemerkt, falls er ihr gegenüber nicht aufrichtig gewesen wäre: fremdes Parfüm, den Geschmack einer Rivalin auf der Zunge, ihren Duft an seiner Haut. Und wenn es an solchen Indizien mangelte, so würden subtile Hinweise in Gentles Verhalten Aufschluß bieten. Aber Judith unterschätzte ihn. Als sie durch einen Zufall herausfand, daß er nicht nur eine Geliebte hatte, sondern sogar zwei, schnappte sie fast über. Sie zerstörte die Einrichtung des Ateliers, zerfetzte alle Bilder, stellte Gentle zur Rede und griff ihn mit solcher Wut an, daß er auf die Knie sank und um seine kostbaren Hoden fürchtete.
Eine Woche lang brannte der Zorn in ihr, und anschließend blieb sie drei Tage lang völlig stumm. Während ihres Schweigens litt sie an einem Kummer, den sie in dieser 34
zermürbenden Intensität nie zuvor gespürt hatte. Vielleicht hätte sie sich das Leben genommen - wenn nicht Estabrook gewesen wäre, der durch Trauer und Niedergeschlagenheit bis zum wahren Kern ihres Ichs zu blicken versuchte.
Soweit die Geschichte von Judith und Gentle: Nur ein Tod fehlte, um eine Tragödie daraus zu machen; nur eine Heirat, um sie zur Farce werden zu lassen.
Marlin war bereits zu Hause und wirkte ungewöhnlich erregt.
»Wo bist du gewesen?« fragte er. »Es ist schon achtzehn Uhr neununddreißig.«
Judith begriff sofort, daß es keinen Sinn hatte, von ihrem eigentümlichen Erlebnis zu berichten. »Ich konnte kein Taxi finden und mußte zu Fuß gehen«, log sie.
»Ruf mich an, wenn das noch einmal passiert. Dann schicke ich dir eine unserer Limousinen. Ich möchte nicht, daß du allein in den Straßen unterwegs bist. Das ist zu gefährlich.
Nun, wir sind spät dran. Ich schlage vor, wir essen nach der Vorstellung.«
»Nach welcher Vorstellung?«
»Die Aufführung im Village, von der Troy gestern abend er-zählte. Erinnerst du dich? Die sogenannte Neugeburt Christi.
Er meinte, es sei das Beste seit Bethlehem.«
»Die Vorstellungen sind ausverkauft.«
»Ich habe gute Beziehungen.« Marlin strahlte.
»Sehen wir uns die Show heute abend an?«
»Wenn du dich endlich beeilst.«
»Manchmal bist du wundervoll, Marlin«, sagte Judith. Sie stellte die Einkaufstüten ab und hastete zur Garderobe, um ihre Kleidung zu wechseln.
»Und sonst?« rief er ihr nach. »Bin ich nicht auch sexy, unwiderstehlich und gut im Bett?«
Wenn Marlin die Eintrittskarten in der Hoffnung besorgt hatte, Judith ins Bett zu locken, so
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