Imagica
irdischen Vergangenheit - ein Ort (beziehungsweise Zustand) namens In Ovo. Dahinter erstreckten sich vier Welten, die sogenannten zusammengeführten Domänen. In ihnen wimmelte es von Wundern: Individuen, die aufgrund ihrer erstaunlichen Fähigkeiten hier in der Fünften Domäne zu Heiligen erklärt oder als Ketzer verbrannt worden wären, vielleicht auch beides; Kulte mit Geheimnissen, die alle Dogmen des Glaubens und der Physik der Lächerlichkeit preisgegeben hätten: Schönheit, heller und strahlender als das Licht der Sonne, dazu geeignet, den Mond von Fruchtbarkeit träumen zu lassen. Die Kluft des In Ovo trennte all dies von der isolierten Fünften Domäne namens Erde.
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Natürlich war die Reise zu den anderen Welten nicht unmöglich. Man benötigte dazu eine Kraft, die verächtlich als ›Magie‹
bezeichnet wurde, und seit Chants Ankunft in der Fünften schwand sie immer mehr. Er hatte beobachtet, wie man die Mauern der Vernunft errichtete, Ziegelstein um Ziegelstein, wie man die Eingeweihten jagte und verhöhnte. Die wahre Lehre fiel Dekadenz und Parodie zum Opfer, und ihr Zweck geriet allmählich in Vergessenheit. Die Fünfte Domäne erstickte an ihrem eigenen Pragmatismus. Chant verband keine Freude mit der Vorstellung, bald zu sterben, aber er würde es kaum bedauern, von dieser grauen, poesielosen Domäne Abschied nehmen zu müssen.
Er trat ans Fenster und blickte aus dem fünften Stock zum Hof. Leer. Ihm blieben noch einige Minuten, um die Mitteilung für Estabrook zu formulieren. Chant kehrte zum Tisch zurück und schrieb erneut, zum neunten oder zehnten Mal. Es gab viel, das er erklären mußte, aber er wußte auch, daß Charlie Estabrook nichts von der Rolle ahnte, die seine Familie - mit der er nichts mehr zu tun haben wollte - beim Schicksal der Domänen gespielt hatte. Jetzt war es zu spät, ihm die Hintergründe zu erläutern. Eine Warnung mußte genügen.
Aber wie sollte er sich ausdrücken, um nicht wie ein Verrückter zu klingen? Einmal mehr griff er nach dem Stift, wählte möglichst einfache Worte und zweifelte gleichzeitig daran, daß es ihm auf diese Weise gelang, Estabrooks Leben zu retten. Wenn jene finsteren Mächte, die heute nacht Vollstrecker schicken würden, seinen Tod wollten... Dann konnte ihn nur das Eingreifen des Unerblickten höchstpersönlich vor dem Verderben bewahren - eine Intervention von Hapexamendios, des allmächtigen Herrschers der Ersten Domäne.
Schließlich steckte Chant das beschriebene Blatt ein und ging nach draußen in die Dunkelheit. Keine Sekunde zu früh.
In der frostigen Stille hörte er das Geräusch eines Motors: 42
leises Schnurren, das großen Hubraum und viel PS verriet - ein solches Fahrzeug gehörte sicher keinem der anderen Mieter. Er spähte über die Brüstung und sah ein Auto mit makellos glänzendem Lack, die typische Sauberkeit eines Leichenwagens. Mehrere Männer stiegen aus, und Chant fluchte lautlos. Wirklich, er war träge geworden und hatte den Feind viel zu nahe an sich herankommen lassen. Er schlich die Hintertreppe hinunter - dankbar dafür, daß dort nur wenige Glühbirnen brannten -, während die Besucher zum vorderen Eingang schritten. Als er an den Türen der anderen Wohnungen vorbeikam, vernahm er Leben: Weihnachtslieder im Radio, die lauten Stimmen eines Streits, ein kleines Kind, das erst lachte und dann weinte, als spürte es die drohende Gefahr.
Chant kannte seine Nachbarn nur als namenlose Gesichter hinter Fenstern, was ihn nun mit vagem Kummer erfüllte.
Kurze Zeit später erreichte er das Erdgeschoß und eilte nach draußen. Zunächst dachte er daran, zu seinem Wagen zu laufen, der im Hof parkte, aber er entschied sich dagegen. Statt dessen wählte er ein anderes Ziel: die Kennington Park Road, eine Straße, auf der er selbst um diese Zeit dichten Verkehr erwarten durfte. Mit ein wenig Glück fand er dort ein Taxi, obwohl so spät am Abend nur noch wenige unterwegs waren.
In diesem Viertel gab es nicht so viele Fahrgäste wie in Covent Garden oder Oxford Street, und außerdem mochten sie zwielichtiger Natur sein. Chant warf noch einen letzten Blick über die Schulter und setzte dann die Flucht fort.
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Eigentlich enthüllte das Licht des Tages die Fehler eines Malers am besten, aber Gentle arbeitete am liebsten des Nachts
- den Instinkten des Liebhabers folgend, wenn auch diesmal auf eine schlichtere Kunst konzentriert. Seit einer Woche wohnte er jetzt im Atelier und machte es wieder zu einem Arbeitsplatz:
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