Imagica
Nebel, daß der Fremde davonstürmte, verfolgt von einem anderen Mann. Ihr Blick wanderte zu Marlin, der fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei und kehrte noch einmal zur Straße zurück, als Bremsen quietschten. Der Angreifer wurde von der Kühlerhaube eines heranrasenden Autos erfaßt, das mit blockierten Rädern auf dem feuchten, glatten Asphalt rutschte und ihn gegen ein geparktes Fahrzeug schleuderte. Der Verfolger brachte sich mit einem weiten Sprung in Sicherheit, als der Wagen über den Bürgersteig sauste und gegen einen Laternenpfahl prallte.
Judith streckte die Hand aus, um sich irgendwo abzustützen, und ihre Finger berührten eine nahe Mauer. Sie hörte nicht auf Marlin - bleib hier, bleib hier - und taumelte dorthin, wo der Unbekannte lag. Der Fahrer des beschädigten Wagens stieg aus und fluchte hingebungsvoll, während sich Schaulustige näherten. Jude schenkte ihrem Starren keine Beachtung und wankte über die Straße, begleitet von Marlin. Sie war fest entschlossen, den reglosen Körper als erste zu erreichen; sie wollte die offenen Augen der Leiche sehen, ihr Gesicht.
Blut fiel ihr auf, rote Flecken im Schneematsch zu ihren Füßen. Einige Meter weiter vorn lag der Leib des Fremden im 38
Rinnstein, erschlafft und leblos. Doch plötzlich schauderte er, rollte herum und wandte das Gesicht dem Schneeregen zu. Er mußte tödliche Verletzungen erlitten haben - dennoch stemmte er sich hoch. Judith sah überall Blut, aber sie hielt vergeblich nach offenen Wunden Ausschau. Das ist kein Mensch, fuhr es ihr durch den Sinn. Nein, diese Gestalt kann unmöglich ein Mensch sein. Marlin stöhnte und würgte; auf dem Bürgersteig schrie eine Frau. Der Mann blickte kurz in ihre Richtung und schien dann Jude in den Fokus seiner Aufmerksamkeit zu rücken.
Er war jetzt kein Mörder mehr, und es fehlte auch jede Ähnlichkeit mit Gentle. Wenn dieses Wesen ein wahres Selbst besaß, so zeigte sich dies nun in seiner Miene: Schmerz, Zweifel, Verwirrung und Reue. Es öffnete den Mund, als wolle es einige Worte an Judith richten. Marlin trat einen Schritt vor, und daraufhin richtete sich das Geschöpf auf, wirbelte um die eigene Achse und lief fort. Daß es sich überhaupt noch bewegen konnte, war ein Wunder, doch es lief mit einer Geschwindigkeit, die Marlin keine Chance gab, es einzuholen.
Er verfolgte das Etwas nur, um Eindruck zu schinden, machte an der ersten Straßenecke kehrt und kam schnaufend zu Judith zurück.
»Drogen«, sagte er. Es ärgerte ihn ganz offensichtlich, daß er nicht seine Heldenhaftigkeit beweisen konnte. »Der Typ hat Drogen geschluckt und fühlt keinen Schmerz. Warte nur, bis ihre Wirkung nachläßt - dann fällt er tot um. Mistkerl! Wieso kannte er dich?«
»Kannte er mich wirklich?« Judith zitterte wie Espenlaub.
Erleichterung durchströmte sie, und gleichzeitig bebte Entsetzen in ihr, als sie daran dachte, wie knapp sie dem Tod entronnen war.
»Er nannte dich Judith«, antwortete Marlin.
Vor dem inneren Auge sah sie, wie sich der Mund des Mörders öffnete - auf seinen Lippen las sie ihren Namen.
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»Drogen«, wiederholte Marlin. Jude widersprach ihm nicht, obwohl sie es besser wußte. Die einzige Droge, die der Fremde benutzt hatte, hieß Entschlossenheit, und ihre Wirkung ließ bestimmt nicht nach, weder an diesem Abend noch an irgendeinem anderen.
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KAPITEL 4
Elf Tage waren vergangen, seit er Estabrook zum Zigeunerlager in Streatham gebracht hatte, und Chant begriff, daß er jetzt mit Besuch rechnen mußte. Er lebte allein und zurückgezogen in einem Mietshaus, das man bald für abbruchreif erklären würde, unweit von Elephant and Castle -
eine Adresse, die er niemandem genannt hatte, nicht einmal seinem Auftraggeber. Derartige Geheimhaltungsbemühungen hinderten die Verfolger natürlich nicht daran, ihn zu finden. Im Gegensatz zum Homo sapiens - eine Gattung, die der seit vielen Jahren tote Sartori Blüte am Baum des Affen genannt hatte - konnte sich Chants Spezies nicht vor den Boten des Todes verbergen, indem sie eine Tür schloß und die Jalousien herunterließ. Chant und seine Artgenossen waren wie Leuchtfeuer für jene, die nach ihnen suchten.
Die Menschen hatten es viel einfacher. Früher dienten sie als Nahrung für andere Wesen, deren Nachkommen heute in Zoos lebten, zur Unterhaltung der siegreichen Affen. Der triumphierende Primat ahnte nicht, daß ihn nur wenig von einem Ort trennte, wo Flöhe ebenso gefährlich waren wie die Raubtiere und Ungeheuer der
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