Imagica
litt er für die erträumte Lust.
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Während des ersten Akts gelang es ihm, sich die Langeweile nicht anmerken zu lassen, aber anschließend brannte er darauf, seine Belohnung einzustreichen.
»Müssen wir uns auch den Rest ansehen?« fragte er, als sie im kleinen Foyer Kaffee tranken. »Ich meine, wir wissen doch, wie's weitergeht. Das Kind wird geboren und wächst zu einem Mann heran, der ans Kreuz genagelt wird.«
»Mir gefällt's.«
»Aber es ergibt doch keinen Sinn«, klagte Marlin. Er meinte es völlig ernst. Der Eklektizismus des Stücks ließ sich nicht mit seiner Rationalität vereinbaren. »Warum spielen die Engel Jazz?«
»Warum sollten sie nicht Jazz spielen?«
Marlin schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, ob es eine Komödie, Satire oder etwas anderes ist. Weißt du's?«
»Ich finde das Geschehen auf der Bühne amüsant.«
»Du möchtest also hierbleiben?«
»Ja.«
Die zweite Hälfte erwies sich als noch verwirrender. Judith argwöhnte immer mehr, daß die Mischung aus Parodie und Persiflage nur einen Vorwand darstellte, mit dem die Autoren über Verlegenheit angesichts ihrer eigenen Schöpfung hinwegtäuschen wollten.
Zum Schluß herrschte völliges Chaos: Charlie Parker-Engel heulten auf dem Stalldach, und der Weihnachtsmann sang schnulzig an der Krippe. Aber selbst diese Szene hatte etwas Rührendes: Das Kind wurde geboren und brachte Licht in die Welt, wenn auch in der Begleitung von steptanzenden Elfen.
Als sie das Theater verließen, trug ihnen der Wind Schneeregen entgegen.
»Kalt, kalt, kalt«, sagte Marlin. »Ich muß mal wohin.«
Er kehrte ins Gebäude zurück und gesellte sich den Leuten hinzu, die vor der Toilette Schlange standen. Judith blieb an der Tür stehen und beobachtete die Schneeflocken im Schein 36
der Straßenlaternen. Das Theater war nicht sehr groß, und es dauerte nur wenige Minuten, bis sich das Publikum draußen befand. Mit geöffneten Regenschirmen und gesenkten Köpfen eilten die Leute zu ihren geparkten Wagen oder den Kneipen in der Nähe, um etwas zu trinken und in die Rollen von Kritikern zu schlüpfen. Die Lampe über dem Eingang wurde ausgeschaltet, und ein Reiniger kam mit Mülltüte und Besen.
Er fegte im Foyer und ignorierte Judith - außer ihr hielt sich niemand mehr in der kleinen Eingangshalle auf -, bis er sie erreichte und ihr einen so giftigen Blick zuwarf, daß sie sich entschied, ebenfalls nach draußen zu gehen. Auf dem Bürgersteig hob sie ihren Schirm und versuchte, den kalten Wind zu ignorieren. Marlin ließ sich eine Menge Zeit, um seine Blase zu entleeren. Oder putzte er sich heraus, weil er hoffte, daß sie mit ihm ins Bett stieg?
Es geschah alles so schnell, daß Judith nicht rechtzeitig reagierte. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung: ein Schemen, der rasch durch den Schneeregen herankam.
Erschrocken drehte sie sich um und erkannte das Gesicht von der Third Avenue wieder. Dann war der Mann direkt vor ihr.
Sie öffnete den Mund, um zu schreien, und wandte sich dem Eingang des Theaters zu. Der Reiniger fegte nicht mehr im Foyer. Judiths Schrei erstarb in ihrer Kehle, als sie die Hände des Fremden am Hals spürte. Sie drückten fest zu, mit dem Geschick eines Experten, und von einem Augenblick zum anderen konnte sie nicht mehr atmen. Jude geriet in Panik, schlug um sich und verlor das Gleichgewicht. Der Unbekannte verhinderte, daß sie zu Boden sank, er kontrollierte ihre Bewegungen. Verzweifelt warf sie den Regenschirm in die Eingangshalle und hoffte inständig, daß jemand an der Theaterkasse saß und neugierig genug wurde, um nach dem Rechten zu sehen. Der Fremde zerrte sie aus dem Schatten vor der Tür in schwarze Finsternis, und das Entsetzen wuchs in Judith, Benommenheit tastete nach ihren Gedanken, als 37
bleierne Schwere ihre Arme und Beine nach unten zog. Das Gesicht des Angreifers war erneut schemenhaft, die Augen darin wie zwei Löcher. Sie fiel ihnen entgegen und wünschte sich genug Kraft, um den Blick von der Leere abzuwenden.
Doch als er sich ein wenig zur Seite neigte, kroch mattes Licht über seine Wange, und sie glaubte, Tränen zu sehen, die ihm aus den dunklen Augen rannen. Dann verschwand das Licht, nicht nur von den Zügen des Mannes, sondern aus der ganzen Welt. Judith dachte noch, daß ihr Mörder sie kennen müsse, bevor sich um sie herum alles auflöste...
»Judith?«
Jemand hielt sie. Jemand rief ihren Namen. Nicht der Killer.
Marlin. Sie sank in seine Arme und sah wie durch einen
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