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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Prophezeiungen. Kommt. Ich bringe euch nach oben.«
    »Kann der Maestro nicht allein gehen?« jammerte Montag.
    »Später haben wir genug Zeit für uns«, sagte Hoi-Polloi und ergriff seine Hand. »Zuerst muß ich ihn zur Kammer führen.«
    Die Bäume innerhalb des Kreises aus eingestürzten und halb fortgewaschenen Mauern waren noch größer als die in der Stadt - vermutlich verdankten sie ihr enormes Wachstum der fast greifbaren heiligen Aura. Gentle bemerkte Frauen und Kinder im Gewirr der Äste, auch zwischen den dicken Wurzeln, doch nirgends sah er einen Mann. Wenn Hoi-Polloi sie nicht begleitet hätte - vielleicht wären sie dann aufgefordert worden, diesen Ort zu verlassen? Welchen Nachdruck man solchen Aufforderungen verliehen hätte, blieb Spekulationen überlassen, aber der Rekonziliant zweifelte nicht daran, daß die in Luft und Boden spürbaren Präsenzen über erhebliche Macht verfügten. Er wußte, um wen oder was es sich handelte: um die Göttinnen, die ihm gegenüber zum erstenmal in Beatrix erwähnt worden waren, in Mutter Splendids Küche.
    Die Wanderung erwies sich als umständlich. Manchmal waren die Flüsse zu tief oder ihre Strömungen zu stark, um einfach hindurchzuwaten, und dann geleitete Hoi-Polloi ihre beiden Begleiter zu Brücken oder Trittsteinen - auf der anderen Seite mußten sie dann bald wieder in die ursprüngliche Richtung zurückkehren. Das Etwas in der Luft verdichtete sich, 1333

    bis Gentle schließlich glaubte, von unsichtbaren Ohren und Augen belauscht und beobachtet zu werden. Dutzende von Fragen lagen ihm auf der Zunge, aber er behielt sie für sich, um nicht naiv zu wirken. Ab und zu ließ Hoi-Polloi Bemerkungen fallen, die ohne eine Erklärung rätselhaft klangen. »Die Feuer sind so komisch...«, sagte sie einmal, als sie an den geborstenen Resten einer Kriegsmaschine des Autokraten vorbeikamen. Und an einem tiefen blauen Tümpel, in dem menschengroße Fische schwammen: »Wahrscheinlich haben sie eine eigene Stadt. Aber sie befindet sich so tief im Ozean, daß ich sie wohl nie sehen werde. Im Gegensatz zu den Kindern. Ach, ist das nicht wundervoll...«
    Schließlich blieb Hoi-Polloi vor einer Tür stehen, in der glänzendes Wasser einen weiteren Vorhang bildete, und dort wandte sie sich an Gentle.
    »Sie warten auf dich.«
    Montag wollte den Zugang zusammen mit Gentle durchschreiten, aber Hoi-Polloi hielt ihn zurück, indem sie ihm einen Kuß auf den Hals hauchte.
    »Diese Sache betrifft nur den Maestro«, sagte sie. »Komm.
    Laß uns schwimmen.«
    »Boß?«
    »Geh nur«, erwiderte Gentle. »Hier droht mir gewiß keine Gefahr.«
    »Also bis später.« Montag lächelte und eilte mit Hoi-Polloi fort.
    Gentle drehte sich um, noch bevor die beiden jungen Leute im Grün verschwanden, streckte die Hände aus, um den kühlen Vorhang zu teilen, und betrat die Kammer. Nach dem fröhlichen Leben draußen kamen Ausmaße und strenge Einfachheit des Saals einem Schock gleich. Dies war vielleicht das einzige Bauwerk der Stadt, das etwas vom Größenwahn des Autokraten bewahrt hatte. In der riesigen Leere zeigten sich nur einige wenige Ranken, und Wasser plätscherte an zwei 133
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    Stellen: hinter Gentle in der Tür, und weit vorn in einem Torbogen. Doch die Gegenwart der Göttinnen blieb auch hier nicht ohne Einfluß. Die Wände der einst fensterlosen Kammer wiesen überall Löcher auf, durch die das Licht des Abends sickerte. Die Einrichtung beschränkte sich auf einen Stuhl. Und darauf saß Judith, mit einem Baby im Schoß. Als Gentle hereinkam, hob sie den Kopf und lächelte.
    »Ich dachte schon, du hättest dich verirrt«, sagte sie.
    Ihre Stimme klang sanft, wie eine zarte Melodie, die das matte Licht an den Wänden flackern ließ.
    »Ich wußte nicht, daß du hier auf mich wartest«, entgegnete der Maestro.
    »Es hat mir keine Mühe bereitet. Willst du einen so großen Abstand wahren?«
    Als Gentle den Saal durchquerte, fuhr Jude fort:
    »Zuerst habe ich nicht damit gerechnet, daß du uns folgst, doch dann fiel mir ein: Er kommt bestimmt, weil er das Kind sehen möchte.«
    »Um ganz ehrlich zu sein... Ich habe überhaupt nicht an das Kind gedacht.«
    Judith nahm keinen Anstoß an dieser Antwort. »Wie dem auch sei: Meine Tochter dachte an dich.«
    Das Baby konnte kaum mehr als einige Wochen alt sein, aber ganz offensichtlich wuchs es ebenso rasch wie die hiesigen Bäume. Es hockte auf Judes Schoß und hatte die rechte Hand um eine lange Haarsträhne der Mutter geschlossen. Die

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