Imagica
sprießendem Leben floß jenes Wasser, das die Keime 1325
der Pflanzen nach oben gebracht hatte - es glitt noch immer am Hang empor, allerdings ohne eine Flotte aus Gebeten mit sich zu führen. Entweder hatten die Göttinnen bereits Erlösung von körperlichem und seelischem Schmerz gewährt, oder ihre Taufen gaben den Bittstellern die Möglichkeit, sich selbst zu heilen und zu läutern.
Judith und Hoi-Polloi suchten nicht sofort den Palast auf, als sie die Stadt erreichten, auch nicht am Tag nach ihrer Ankunft.
Statt dessen gingen sie zum Haus des Kaufmanns Hebbert und quartierten sich dort ein. Zwar fehlten jetzt Tulpen auf dem Eßzimmertisch, aber dafür gab es Dutzende von anderen Blumen, die durch den Boden wuchsen, und das Dach war zu einem Vogelheim geworden. Diese Unannehmlichkeiten waren jedoch kaum der Rede wert - immerhin hatten sie während ihrer langen und anstrengenden Reise häufig unter weitaus unbequemeren Umständen übernachtet. Dankbar streckten sie sich in Betten aus, die Lauben ähnelten, und ließen sich vom Gurren, Zirpen und Schnattern der Vögel in den Schlaf wiegen.
Als sie erwachten, gab es genug zu essen: Man brauchte nur die Hand auszustrecken, um Obst zu pflücken, und die Straßen boten nicht nur reines, sauberes Wasser an, sondern auch Fische - das wichtigste Nahrungsmittel der in diesem Bereich der Stadt lebenden Clans.
Zu den Großfamilien gehörten Frauen und Männer.
Vermutlich hatten einige der letzteren in jener Nacht, die das Ende der Autokraten-Herrschaft brachte, zusammen mit den vielen anderen geplündert und getötet. Was auch immer der Grund sein mochte, Dankbarkeit in Hinsicht auf das eigene Überleben oder der Einfluß des üppigen Wachstums um sie herum: Sie zogen einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit und beschritten einen neuen Weg. Hände, die zuvor zerstört und verstümmelt hatten, reparierten nun Häuser und errichteten Mauern, die Dschungel und Wasser nicht etwa trotzen, sondern mit ihnen harmonisieren sollten. Diesmal waren die 132
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Architekten Frauen. Sie ließen sich von der Taufe inspirieren, nahmen sie zum Anlaß, aus den Trümmern der alten Stadt eine ganz neue zu bauen. Überall sah Jude Beispiele für die ruhige und elegante Ästhetik, in der sie die Macht der Göttinnen wiedererkannte.
Bei den Bauarbeiten ließ sich keine Eile beobachten, und es fehlten auch Hinweise auf einen Plan, der die ganze grüne Metropole betraf. Die Ära des Reiches war vorbei, und damit auch die Epoche der Dogmen, Edikte und des Konformismus.
Jeder schuf sich auf eigene Art und Weise ein Dach über dem Kopf, und wer noch keine Lösung für dieses Problem gefunden hatte, vertraute sich den Schatten und Nahrung spendenden Bäumen an. Angesichts einer derartigen Einstellung war es sicher keine Überraschung, daß sich die neu entstehenden Häuser ebensosehr voneinander unterschieden wie die Gesichter der Frauen, die bei der Konstruktion die Aufsicht führten. Jener Sartori, dem Judith in der Gamut Street begegnet war, hätte diese Entwicklung sicher begrüßt. Sie erinnerte sich an das letzte Gespräch mit ihm, fühlte noch einmal, wie er sie an der Wange berührte, erfuhr von seinem Traum, eine Stadt nach ihrem Ebenbild zu schaffen. Wenn jenes Ebenbild schlicht Frau hieß, so beobachtete sie nun, wie das erträumte Neue Yzordderrex aus den Ruinen wuchs.
Tag für Tag wandelten Judith und Hoi-Polloi unter einem zwitschernden und raschelnden Baldachin, folgten dem Verlauf plätschernder, gurgelnder Flüsse, während in der warmen Luft lachende Stimmen erklangen. Des Nachts schliefen sie unter einem aus Federn und Blättern bestehenden Dach und gaben sich dabei angenehmen Träumen hin. Diese Phase dauerte eine Woche, und in der achten Nacht wurde Jude von Hoi-Polloi geweckt. Die jüngere Frau stand am Fenster und sagte:
»Sieh nur.«
Sie blickten nach draußen. Die Sterne leuchteten hell über der Stadt, und ihr Licht spiegelte sich funkelnd auf dem Fluß 1327
weiter unten wider. Judith beobachtete, wie sich in dem Wasser etwas bewegte. Körper, die mehr Substanz besaßen als nur Sternenlicht - und die etwas bestätigten, das den beiden reisenden Frauen noch auf dem Fastenweg zu Ohren gekommen war. Vor dem Haus schwammen Geschöpfe, die nie ein Fischer in seinem Netz gesehen hatte, ganz gleich, wo er es ausbrachte und wie tief es reichte. Manche offenbarten Aspekte von Delphinen, Tintenfischen oder Rochen, aber sie alle teilten eine Eigenschaft: Irgendwo in
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