Imagica
Brüste der Frau waren nackt und einladend, aber das Mädchen hatte derzeit kein Interesse an Nahrung oder Schlaf. Es sah Gentle an und musterte ihn mit einem sehr aufmerksamen Blick.
»Wie geht es Clem?« fragte Judith, als der Maestro vor ihr verharrte.
»Es ging ihm gut, als ich ihn zum letztenmal sah.
Allerdings... Ich bin ziemlich überstürzt aufgebrochen und 1335
fühle mich deshalb schuldig. Als ich erst einmal unterwegs war...«
»Ja, ich weiß. Nach dem Beginn der Reise gab es kein Zurück mehr. So war's auch bei mir.«
Gentle bückte sich und bot dem Kind die Hand an. Es griff sofort danach.
»Wie heißt sie?« fragte er.
»Ich hoffe, du hast nichts gegen ihren Namen...«
»Warum sollte ich?«
»Ich habe sie Huzzah genannt.«
Gentle lächelte. »Tatsächlich?« Er sah wieder zu dem Mädchen hin und beugte sich vor. »Huzzah? Ich bin Gentle, Huzzah.«
»Sie weiß, wer du bist«, sagte Jude. Ihr Tonfall ließ keinen Platz für Zweifel. »Sie wußte von diesem Saal, noch bevor sie existierte. Und sie wußte, daß du früher oder später hierherkommen würdest.«
Gentle brauchte nicht zu fragen, woher das Wissen des Kindes stammte. Es war ein Geheimnis, das sich den vielen anderen Mysterien dieses Ortes hinzugesellte.
»Und die Göttinnen?«
»Was ist mit ihnen?«
»Haben sie nichts gegen Sartoris Tochter?«
»Nein«, antwortete Judith, und ihre Stimme brachte noch mehr Gefühl zum Ausdruck. »Die ganze Stadt beweist, daß Gutes aus Bösem entstehen kann.«
»Huzzah ist nicht nur gut, sondern wundervoll«, kommentierte Gentle.
Jude lächelte, und auch das Kind.
»Ja, da hast du recht.«
Huzzah versuchte, Gentles Gesicht zu berühren, und dabei neigte sie sich so weit nach vorn, daß sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte.
»Ich glaube, sie sieht ihren Vater.« Judith nahm ihre Tochter 133
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vorsichtig in die Armbeuge und stand auf.
Auch Gentle richtete sich auf und beobachtete, wie die Mutter das Kind zu einigen Spielsachen trug, die mehrere Meter entfernt auf dem Boden lagen. Das Mädchen winkte und gluckste.
»Vermißt du ihn?« erkundigte sich der Maestro.
»In der Fünften war das der Fall«, erwiderte Jude und kehrte Gentle den Rücken zu, als sie ein Spielzeug aufhob. »Aber hier nicht mehr. Huzzah füllt jene Leere. Seltsam: Bis zu ihrer Geburt habe ich nie einen festen Platz in der Realität gefunden.
Ich bin nur das Spiegelbild der anderen Judith gewesen.« Sie drehte sich um. »Es fällt mir noch immer schwer, mich an all die vergangenen Jahre zu erinnern. Gelegentlich sehe ich einzelne Szenen, aber sie bleiben ohne Bedeutung. Ich bin in einem Traum gefangen gewesen, Gentle, und sie hat mich daraus befreit.« Jude küßte ihre Tochter auf die Wange.
»Durch sie bin ich wirklich geworden. Bisher war ich eine Kopie, ebenso wie Sartori - das wußten wir beide. Aber gemeinsam gelang es uns, etwas Neues zu schaffen.« Sie seufzte.
»Ich vermisse ihn nicht mehr«, fügte sie hinzu. »Aber ich wünschte, er könnte Huzzah sehen. Nur einmal. Sie ist der Beweis dafür, daß es auch für ihn die Möglichkeit gab, aus dem Reich der Imagination in die Realität hinüberzuwechseln.«
Judith wollte zum Stuhl zurückkehren, aber das Kind streckte die Hand nach Gentle aus und gab einen energischen Laut von sich.
»Sie scheint dich sehr zu mögen«, sagte die Mutter.
Jude setzte sich und bot ihrer Tochter das Spielzeug an: einen kleinen blauen Stein.
»Hier, Liebling - sieh nur. Was ist das? Na, was ist das?«
Huzzah gluckste erneut, nahm den Stein entgegen und zeigte dabei ein Geschick, wie man es erst bei älteren Kindern erwartet hätte.
»Sie lacht gern«, stellte Gentle fest.
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»Ja, Gott sei Dank.« Judith schnitt eine Grimasse. »Nun hör sich das einer an: Ich bedanke mich noch immer bei Gott.«
»Alte Angewohnheiten...«
»...wird man schwer los.«
Das Kind hob sein Spielzeug zum Mund.
»Nein, Schatz, das solltest du besser lassen...«, mahnte Jude.
Und zu Gentle gewandt: »Glaubst du, daß sich die Rasur schließlich ganz auflöst? Eine Freundin von mir - sie heißt Lotti - ist davon überzeugt. Sie meint, irgendwann würde die Barriere verschwinden, und dann müßten wir den Gestank der Ersten ertragen, wenn der Wind aus jener Richtung weht.«
»Vielleicht ist es möglich, die Rasur durch eine Mauer zu ersetzen.«
»Und wer soll sie bauen? Alle halten sich von jenem Ort fern.«
»Selbst die Göttinnen?«
»Sie haben hier Arbeit genug. Und in der
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