Immer diese Gespenster
Ein glatter, runder Kieselstein fiel scheinbar vom Himmel herunter vor Heros Füße. Er hob ihn lachend auf. Noreen winkte heftig. Es war ihr Abschied von ihm und auch von ihrer Tätigkeit als Poltergeist.
«Zum Teufel mit Ihrer Impertinenz, Sir!» brüllte Lord Paradine. «Wie konnten Sie es wagen, sie einfach gehen zu lassen?»
Sie waren auf Heros Verlangen alle in der Bibliothek des Westflügels versammelt. Da waren Lord und Lady Paradine, Mark und Susan Marshall, Sir Richard Lockerie und Beth, Vetter Freddie und Meg. Es war später Vormittag, und Meg trug bereits ihr Reisekostüm. Auch Hero hatte sich schon umgezogen. Meg stellte fest, daß er ebenso erschöpft aussah wie alle anderen, die verlegen herumsaßen wie Verwandte, die sich zur Testamentseröffnung zusammengefunden haben. Als Hero mit ruhiger Stimme berichtete, was er im Keller vorgefunden hatte — wie es ihm gelungen war, den Brand zu verhindern, und wie Isobel kurz darauf abgefahren war — , wurden ihre Gesichter immer betretener. Lord Paradine fühlte sich gedemütigt, verwirrt, betäubt und aufgebracht. Sein rundes Gesicht vor Zorn gerötet, die vorstehenden Augen weit aufgerissen, schrie er: «Wie wollen Sie Ihr Verhalten rechtfertigen?»
Hero antwortete beherrscht: «Denken Sie daran, daß sie Ihre Schwester ist, Sir.»
Aber Paradines Wut steigerte sich nur noch mehr. «Verflucht noch mal!» tobte er. «Nachdem sie beinahe meine Tochter ermordet und das Schloß angezündet hat! Sie werden sich dafür zu verantworten haben, Hero!»
«Zum Teufel!» donnerte nun auch Hero. «Sie war eine Frau — ein gequältes Menschenkind. Sie war nicht wie alle anderen.»
Sein Zornesausbruch erschreckte alle so, daß ein schockiertes Schweigen folgte. Hero bemerkte, wie die Familie sich wieder zusammenschloß und eine Abwehrfront gegen ihn bildete. Selbst Vetter Freddie schien näher an den entrüsteten Onkel heranzurücken.
Meg reagierte sofort und sehr deutlich darauf. Sie saß auf dem Sofa am anderen Ende des Zimmers und beobachtete Hero mit ihren ernsten, intelligenten Augen und einem ironischen Zug um die Mundwinkel. Nun erhob sie sich, schritt durch den Raum und setzte sich auf einen Stuhl neben ihren Stiefbruder.
Bevor die Anwesenden die Möglichkeit hatten, etwas auf seinen Ausbruch zu erwidern, fuhr Hero bereits fort: «Ich möchte Sie daran erinnern, Lord Paradine, daß ich weder Kriminalbeamter noch Richter bin. In meinem Beruf komme ich oft mit der schlechtesten Seite des Menschen in Berührung, während ich doch in gewissem Sinne das Beste suche, nämlich das, was vom menschlichen Geist erhalten bleibt. Aber daß die Leute manchmal böse, schwach und sündig sind, ist nicht meine Schuld. Sie haben mich hergerufen, weil Sie von dem angeblichen Spuk im Schloß beunruhigt waren. Mein Auftrag war, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Das habe ich getan. In Paradine Hall werden keine Gespenster mehr ihr Unwesen treiben.»
Der scharfe, schneidende Ton, in dem er sprach, kühlte Lord Paradines Zorn. Er schämte sich nun über seinen Wutausbruch und sagte es auch. «Verzeihen Sie, Hero. Ich glaube, Sie haben recht.»
Vetter Freddie dagegen meinte höhnisch: «Tatsächlich? Aber wie steht es denn mit der fröhlichen alten Nonne? Ich meine mit dem überlieferten Gespenst?»
Hero hatte Vetter Freddies Unverschämtheiten endgültig satt.
«Was die Legende von der Nonne anbetrifft, so habe ich erwachsene Menschen noch nie so viel unverfälschten Blödsinn reden hören. Die Geschichte ist ein Gemisch aus Richard Löwenherz, Heloise und Abilard bis zu den Schauermärchen in der Boulevardpresse. Glauben Sie wirklich, daß ein englischer Edelmann sich damals so benehmen konnte? Wissen Sie nicht, daß es auch im Jahre 1564 schon Polizei, Gerichte, Prozesse und Strafgesetze gab? Glauben Sie, daß eine Nonne aus einem Kloster verschwinden konnte, ohne daß eine gründliche Untersuchung eingeleitet wurde? Diese Norme hat es nie gegeben. Damit Sie es ganz genau wissen!»
Merkwürdigerweise war es ausgerechnet Lord Paradine, der am heftigsten widersprach. Er, der allen Erscheinungen im Schloß so skeptisch und kritisch gegenübergestanden hatte. Doch nun schien es ihm, als raube ihm Hero ein Familienerbstück, indem er die Existenz der Nonne leugnete.
«Was soll das heißen?» protestierte er. «Keine Nonne? Warum ist es dann schriftlich überliefert worden, Sir? Können Sie Ihre Behauptung beweisen?»
«Gewiß kann ich das», entgegnete Hero. «Meine ersten
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