Immer wenn er mich berührte
Lippen … die ihn erstarren ließ.
»Ich kann gut Ihre Gefühle verstehen, Herr Siebert, aber Sie müssen sich jetzt zusammennehmen.«
»Ja«, sagte er und stand auf.
Im Wagen sprachen sie lange nichts. Jürgen kämpfte um das, was man Haltung nennt. Er preßte seine Lippen aufeinander und starrte durch die Scheiben. Erst als sie fast am Ziel waren, bemerkte der Inspektor: »Nach Ansicht des Gerichtsmediziners ist eine Identifizierung noch gut möglich. Ich muß Sie aber trotzdem darauf aufmerksam machen, daß die Leiche fünf bis sechs Tage im Wasser gelegen ist, sich also doch schon wesentlich verändert hat. Achten Sie deshalb bitte auf gewisse unveränderliche Kennzeichen, Narben und so weiter …«
Das Tor des Instituts war geschlossen. Aber hinter den hohen Fenstern brannte Licht. Man hörte Schritte.
Der Mann, der das Tor öffnete, wußte Bescheid. Er murmelte einen Gruß und führte die späten Besucher gleich in den Sektionssaal.
Jürgen nahm den süßlichen Geruch wahr, das Aufflammen der Neonlampen, die blendende, grausame Helligkeit, den Tisch, das weiße Tuch, das eine fremde Hand zurückschlug …
»Janine!« War dieser Schrei überhaupt seinem Mund entsprungen?
Jürgen mußte nach dem Arm des Inspektors greifen, sich an ihm festhalten … so entstellt und verzerrt ihr Gesicht war, so fremd der Körper, allein an ihren Haaren hätte er sie tausendmal erkannt.
Der Tod hatte alles verändert. Nur ihre Haare nicht, die waren noch schön, die hatten noch die Farbe des Goldes, die leuchteten noch … und wie immer war eine Strähne in das Gesicht gefallen.
»Haben Sie sie erkannt?« fragte der Inspektor leise.
»Ja.«
Erst draußen auf der Straße drückte der Inspektor ihm die Hand. »Es tut mir leid, Herr Siebert. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.«
Nein, dachte Jürgen. Das kannst du dir nicht vorstellen. Das kann sich kein Mensch vorstellen, was es heißt, jetzt heimzufahren, in das gemeinsame Haus, in Ehebetten zu schlafen, verzweifelt an die Decke zu starren, mit einer Toten Zwiesprache zu halten …
Für Inspektor Sasse war es ein Fall, den er erledigt hatte. Er konnte die Fahndung nach Janine Siebert, 27 Jahre alt, letzte Adresse Berlin-Mariendorf, Atlasstraße 16, einstellen.
Von diesem 17. Dezember an gab es keine Janine Siebert mehr.
Als Dr. Stephan Haller ins Zimmer trat, richtete sich Janine in ihrem Bett auf und lächelte.
»Ich sehe Sie zum erstenmal lachen«, sagte der Doktor, »und das steht Ihnen ausgezeichnet.«
»Danke.«
»Einen Vornamen haben Sie auch schon, habe ich von der Schwester gehört.«
»Ja«, antwortete sie und reichte dem Arzt ein dünnes goldenes Kettchen. »Das hier hat mir dazu verholfen.«
Haller las die Gravur an der Innenseite des kleinen Anhängers: Janine 6.5.60.
»Sind Sie zufrieden mit Janine?« fragte der Doktor lächelnd.
»Zufrieden schon«, antwortete sie stirnrunzelnd, »nur schade, daß ich mich nicht daran erinnern kann.«
Haller setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Er war gestern nacht erst aus dem Katastrophengebiet zurückgekommen. Zum erstenmal hatte er ausgeschlafen, trug wieder einen sauberen, weißen Mantel, war umgeben von Hygiene, Pünktlichkeit und Ordnung.
»Sie sind Deutscher, nicht wahr?« forschte Janine.
»Ja. Ich bin vor einem Jahr nach Casablanca gegangen und arbeite hier an der Rif-Klinik als Chirurg.«
»Und wie lange bleiben Sie noch?«
»Im Januar gehe ich zurück.« Er sah sie einen Moment lang nachdenklich an. »Sie sprechen so gut Deutsch, daß ich zweifle, ob Sie überhaupt Französin sind.«
»Nun, mein Französisch scheint noch besser zu sein. Monsieur Juin, der französische Generalkonsul hier, hält es jedenfalls für meine Muttersprache.«
»Hat er Sie besucht?«
Janine nickte. »Er interessiert sich außerordentlich für meinen Fall. Er hat in der Zeitung hier ein Bild veröffentlichen lassen. Wer kennt diese Frau?«
»Und?«
»Fehlanzeige. Zwei Männer haben sich gemeldet – aber bei der Gegenüberstellung haben sie mich nicht erkannt.«
»Das spricht dafür«, meinte Dr. Haller, »daß Sie sich nur besuchsweise in Marokko aufhalten, dafür spricht auch der Aufenthalt im Hotel …«
»Der Konsul hat auch in dieser Richtung Nachforschungen angestellt«, bemerkte Janine. »Nur leider ist das Hotel Mirabelle restlos zerstört. Es ist also nicht daran zu denken, daß da etwa meine Koffer zum Vorschein kämen. Der Portier, der an dem Unglückstag Dienst hatte, ist tot. Der zweite
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