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Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)

Titel: Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schädlich
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Armeejacke kam auf uns zu. Der Türsteher. Er begleitete uns bis zum Eingang, er war unsere Leibgarde, und er würde sie sein, wenn wir den Club wieder verließen. Er wünschte einen schönen Abend, und wir waren in einer Welt wie vor vierzig Jahren, verqualmt und voller Blues. Gleich hinter der Tür die Theke, davor ein paar Barhocker, gegenüber die kleine Bühne, darauf der Schlagzeuger im Kammgarnanzug, der im matten Licht abgenutzt schimmerte, der Bassgitarrist mit Jheri Curls in einem Nadelstreifenanzug, der Gitarrenspieler in Cordhose mit Schlag, kariertem Jackett und Strohhut. Drei ältere Männer, versunken in Musik.
    Harten Alkohol gab es nicht. Dafür Bier. Budweiser, nicht das aus Tschechien, sondern die amerikanische Kopie, oder Coors aus der Dose, das Bauarbeiter tranken, oder Corona. Wir setzten uns, bestellten und hörten stumm vor Ehrfurcht. Irgendwo und überall dazwischen eine ältere, korpulente Dame ganz in Rot, Laura Mae Gross, die Besitzerin seit mehr als dreißig Jahren, allen Schicksalen zum Trotz, die alles überwachte, die bei jedem Gast einen Moment verweilte, ein Schwätzchen hielt oder auch nur zur Begrüßung nickte. Sie, in ihrem hautengen Kleid, mit der knallroten turbanartigen Kopfbedeckung, sie, Big Mama, die Seele des Clubs, blieb vor dem Vater stehen und sagte: »Thank you for coming.«
    An jenem Abend waren wir die einzigen Weißen in dem Club. Und der Vater war der einzige weiße Gast seit langem, der über fünfzig Jahre alt war. Für uns waren die Musiker die Attraktion, er war die Attraktion für die Gäste und Gastgeber. Nach einer Weile verschwand der Vater. Blieb länger weg. Kam wieder. Das wiederholte sich, bis ich ihn fragte, wohin er ginge.
    »In die Küche.« Ricky habe ihn nach hinten gebeten, zum Kühlschrank, ihm die Whiskyflasche in der braunen Papiertüte gereicht, »Cheers« gesagt und auf Freundschaft getrunken. Damit sie länger hielte, hier hinter dem Kühlschrank sei das Versteck, könne der Vater jederzeit ein Schlückchen nehmen. »My whiskey is your whiskey«, und Evans »Neckbone« Walker, der zwar nicht mehr deutlich sprechen konnte, weil er aus einem Kaffeepott, ich nehme an My whiskey is your whiskey, trank, spielte auf seiner Gitarre die Riffs wie ein junger Gott.
    Später setzte sich eine Dame neben den Vater, eine wunderschöne Schwarze in einem grünen Kleid. »I hope you’re having a good time«, sagte sie, und dann tranken sie gemeinsam Bier.
    Ich war schon öfter dort gewesen. Zum Beispiel montags, wenn Jamsession war und es dazu frei Haus Fried Chicken gab. Oder einmal an Mama Babes Geburtstag, ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr. Wir waren zufällig reingeschneit, weil wir Lust auf The Blues gehabt hatten. Und nachdem die Musiker auf Tischen und Stühlen, auf der Bühne und überall gespielt und gesungen hatten, gab es Soul Food für alle, Kassler mit Sauerkraut, Kartoffeln und Polentabrot. Babe servierte selber.
    Nach den Unruhen im April 1992 blieben wir der Gegend fern, bis uns die Wehmut ergriff. Als wir eintraten, war der Laden fast leer, ein paar traurige Gestalten an der Bar, ein paar in den Sitzecken im hinteren Bereich. Noch immer göttliche Musik. Und noch immer Mama, diesmal in einem türkisfarbenen, mit Pailletten besetzten Kleid, die uns empfing, wie man Familienmitglieder begrüßt, deren Wiedersehen man lange ersehnt hat. Sie führte uns zu einem Tisch, wir bestellten Bier, wir rauchten, wir hörten. Stundenlang. Als wir gingen, bat Mama Babe uns, unseren weißen Freunden zu sagen, ihrem Lokal nicht länger fernzubleiben, zurückzukommen zur Musik. Da war sie schon zweiundsiebzig. 1995 musste Babe’s & Ricky’s Inn schließen. Auf dem Leimert Boulevard wurde es später neu eröffnet. Dort war ich nicht mehr, aber Mama Babe ist noch dort und wacht, stelle ich mir vor. Sie ist heute neunundachtzig.
    Es gäbe viel zu erzählen. Amerika steckt voller Geschichten. Oder die Geschichten stecken voller Amerika. Beides ist wahr. Auch wenn viele sagen, das gibt es doch nicht, wenn ich ins Reden komme. Wie in der Erzählung von Peter Bichsel, die ich als Kind in der DDR immer wieder fasziniert las, in der Leute, wenn sie von Amerika sprechen, sich zublinzeln und etwas von den »Staaten« oder »Drüben« sagen, von Cowboys und von Wolkenkratzern, von den Niagarafällen und vom Mississippi, von New York und von San Francisco. »Auf jeden Fall erzählen alle dasselbe, und alle erzählen Dinge, die sie vor der Reise schon wussten; und

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