Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
weil alles miteinander zusammenhängt, weil ich draußen war und wieder hineingezogen werde. Dabei geht es mir gar nicht darum, etwas richtigzustellen, obwohl das eine oder andere richtiggestellt werden wird. Es geht mir auch nicht um Abrechnung, obgleich es sicher guttäte. Es geht auch nicht nur um die Sache mit dem Onkel. Es geht um Himmelsrichtungen zum Beispiel. Um das Wort WO. Wie auf einem Kompass. Wo gehöre ich hin, wo komme ich her? Darum, wie es ist, wenn man keine Wahl hat. Wie es für die war, die mitgingen mit dem Vater, oder für die, die blieben. Mir geht es um das, was war, und darum, wie es war. Davor und danach. Was hat das alles aus mir, aus uns gemacht? In zwei Systemen zu leben, erst in der DDR, dann in der Bundesrepublik. Wie ist das einzuordnen?
Gleich am Anfang konnte ich Schlagzeilen lesen wie »An diesem Wochenende hat Hans Joachim Schädlich die DDR verlassen«. Als wäre er alleine gegangen. Wir wurden allenfalls im Halbsatz erwähnt. Der Tross, der mitzog. Ich könnte sagen, um das Fürchten zu lernen. Das Fürchten hätten wir schon in der DDR lernen können. Man konnte sich vor vielem fürchten. Vor Männern zum Beispiel, die nachts an der Gartenpforte klingelten. Davor, dass sich nichts änderte in dem Staat, in dem man lebte und eigentlich leben wollte. Davor, dass immer mehr Freunde gingen. Man konnte sich sogar vor der eigenen Courage fürchten. Das taten wir nicht.
Die Dämonen der Vergangenheit sind wieder da. Dagegen hilft auch die Birke vor meinem Fenster nicht, durch die ein Wind geht. Der Himmel zieht sich zu. Ich betrachte das Schattenspiel der Zweige und muss an den Wald denken, durch den ich als Kind streifte. In Berlin-Köpenick, im Märchenviertel. Im Wald standen Birken. Ich strich um sie herum, besonders im Frühling. Von den Stämmen zog ich das Weiße ab, wie Pergament so dünn, steckte es behutsam in meine Hosentasche, damit es nicht knitterte. Zu Hause fügte ich die Stückchen zu einer Seite, schrieb etwas darauf. Das Papier wurde braun, die Wörter übertüncht vom Lauf der Natur.
In einem Buch habe ich gelesen, Birken seien die Dichter unter den Bäumen. Der Gedanke gefällt mir besser als der ihrer schützenden Kraft vor bösen Geistern.
Die Orte von früher sollen sich nicht einmischen in mein neues Leben. Abgestreift, ad acta, perdu. Doch wie mit den Dämonen, die im Verborgenen lauern, ist es mit Erinnerungen. Sie kommen unerwartet, wie jemand, der nicht eingeladen ist. Ich frage mich, ob es die Birken in dem Wald vor dem Haus mit dem Rotdornbaum, das wir 1977 verließen, noch gibt.
1977, das Jahr, in dem wir »nach drüben sind«, wie es hieß, als gehe man in Nachbars Garten. Ich war zwölf, schon Thälmannpionier, obwohl ich das Halstuch nach Möglichkeit nicht trug. Und fast schon ein Teenager. Das ist wichtig. Warum? Ich bekam mit, was vor sich ging, weil in unserem Haus offen gesprochen wurde. Über Politik und das, was um uns herum geschah. Dass ich draußen besser darüber schwieg, brauchte man mir nicht zu sagen.
Im Westen dann Sprachlosigkeit. Keine Zeit zu reden. Wir mussten uns zurechtfinden in dem neuen Staat, während die Familie fast zerbrach.
Für uns waren die Ereignisse der Jahre vor allem eine private Sache, für die wir selber kaum Worte fanden.
Jetzt frage ich auch andere, die dabeigewesen sind. Ich lese die Akten, bringe die Erinnerungen in eine Chronologie, in eine Abfolge, damit sie ein Ganzes ergeben und nicht nur Bruchstücke bleiben, die man sich am Familientisch erzählt.
Der Anfang ist nicht schwer zu finden. Es sind nicht die Kindheitstage im Märchenwald nahe der Rotkäppchenstraße in Berlin-Köpenick. Sie schlugen noch keine Wellen. Es ist nicht Amerika. Da hatten die Wellen schon geschlagen. Es sind die Tage im Dezember 1977, die keiner von uns vergisst.
Ich blicke aus dem Fenster meines Arbeitszimmers auf die Birke. Draußen tobt ein Sturm, ein anderer als der in jenen Wintertagen. Der brachte nicht nur Wind und Regen. Der veränderte meine Welt.
1
Es war ein Montag, genauer gesagt, der 5. Dezember. Später Nachmittag. Schon dunkel. Vielleicht verregnet. Sicherlich kalt. Ich kam von der Musikschule. Stieg aus der Straßenbahn, überquerte die Mahlsdorfer Straße in die Genovevastraße. Links der Wald, rechts der Bürgersteig, spärliches Licht von einsamen Laternen. Ich war die einzige dort. Ich weiß nicht, ab wann, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt rannte ich das Stück Genovevastraße bis zur Ecke
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