Immer wieder du: Roman (German Edition)
Barfuß komme ich mir immer so verletzlich vor. Ich schiebe mich vorsichtig zur Tür, halte dabei die Augen offen nach einem dunklen Spinnenkörper, der sich an eine Fußleiste drückt.
Nichts. Nada. Null. Ich weiß nicht, ob sie zur Tür hinaus ist oder ob sie noch irgendwo bei mir im Schlafzimmer lauert. Als ich verängstigt wieder ins Bett steige, weiß ich nur eines ganz sicher: Diese Nacht werde ich nicht gut schlafen.
Kapitel 2
Fünf Uhr morgens. Alles in allem nicht schlecht. Zwar bin ich um drei Uhr wach geworden und musste dringend aufs Klo, aber ich konnte es mir verkneifen, denn ich wollte um keinen Preis im Dunkeln durch den Flur schleichen, solange dort gefährliche Achtfüßer lauerten. Jetzt steige ich jedoch aus dem Bett und ziehe mir schnell meine Turnschuhe an, bevor ich ins Bad gehe. Mums Schlafzimmertür ist angelehnt. Ich bin neugierig, ob sie auch schon wach ist, drücke die Tür auf und spähe hinein. Das Bett ist leer, noch immer ordentlich hergerichtet mit seiner schaurig-schönen Tagesdecke in Schmutzig-Orange und Senfgelb.
Also hat sie gleich in der ersten Nacht mit Michael geschlafen. Überrascht mich das? Eigentlich sollte es das nicht, aber ich atme trotzdem tief durch und stoße beim Verlassen des Zimmers einen lauten Seufzer aus. Die Tür schließe ich hinter mir.
Nach einem Ausflug ins Bad begebe ich mich in die Küche, stehe dort unschlüssig herum und überlege, womit ich mir die Zeit vertreiben könnte, bis alle wach werden. Ich habe in der Nacht nicht mal jemanden heimkommen hören, daher muss ich sehr fest geschlafen haben, trotz meiner Spinnenphobie.
Vielleicht ist Mum überhaupt nicht zurückgekommen? Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen? Wenn sie tot wäre, dann müsste mein Dad Platz für mich schaffen …
Als mir klar wird, dass mein erster Gedanke nicht dem Wohlergehen meiner Mutter gilt, spüre ich ein fieses Stechen im Kopf, aber bevor die dunkle Seite meiner Phantasie eine grausame Szene heraufbeschwört, die ihr leeres Bett erklärt, höre ich im Flur eine Tür aufgehen. Kurz darauf erscheint Michael in der Küche.
»Ah, Lily«, sagt er freundlich. »Ich hab mich schon gefragt, wer hier so früh herumgeistert.«
»Ist Mum bei dir im Schlafzimmer?«, frage ich unumwunden.
»Äh, ja«, erwidert er und wirkt verlegen. Ich atme erleichtert aus, und er wirft mir einen sonderbaren Blick zu, bevor er mit geheuchelter Begeisterung in die Hände klatscht. »Gebongt, ich setz mal den Kessel auf. Möchtest du eine Tasse? Oh …« Er schaut auf meine nackten Füße in den Turnschuhen, bevor er meinen Schlafanzug in Augenschein nimmt. »Wolltest du rausgehen?«, fragt er verdutzt.
»Nein, aber ich hatte gestern Abend eine Spinne in meinem Zimmer.« Ich kann nicht anders – irgendwem, egal wem, muss ich davon berichten.
Er reißt die Augen auf. »Du hast doch nicht etwa in Sportschuhen geschlafen?«
»Sportschuhe? Meinst du die Turnschuhe?«
»Heißen die bei euch so?«
»Ja. Jedenfalls, nein, ich hab sie nur angezogen, um ins Bad zu gehen.«
Er nickt. »Verstehe. Die Spinne hat dich ganz schön erschreckt, was?«
»Ja, die war riesig. Schwarz und behaart.« Unwillkürlich muss ich mich schütteln.
Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Klingt nach einer Jagdspinne. Keine Bange, Schätzchen, die sind nicht gefährlich. Apropos«, fügt er gedankenverloren hinzu, »ich weiß nicht, ob es wahr ist oder eine von diesen städtischen Legenden, aber angeblich verursachen Jagdspinnen mehr Todesfälle als jede andere Spinnenart.«
Ich schaue ihn fragend an und bedaure es sofort, denn er fährt lebhaft gestikulierend fort. »Stell dir vor, du fährst mit deinem Auto die Straße entlang, ganz in Gedanken versunken, klappst die Sonnenblende runter, und plötzlich fällt die eine fette Spinne in den Schoß. PENG!«, ruft er so laut, dass ich zusammenfahre. »Du baust einen Unfall, und gute Nacht, Marie!«
Ich kann noch nicht Autofahren, aber nehme mir vor, Sonnenblenden zu vermeiden, wenn es so weit ist.
»Ups, ich habe dir wieder Angst eingejagt. Ich will damit nur sagen, dass Jagdspinnen in aller Regel nicht beißen. Und wenn, dann würdest du nicht davon sterben. Wenn du ein paar richtig giftige Spinnen sehen willst, dann solltest du mal mit mir zur Arbeit kommen.« Ich lächele matt, und er schmunzelt vor sich hin. »Vielleicht sind kuschelige Koalas eher dein Ding.«
Meine Mum taucht in der Küchentür auf. »Guten Morgen«, flötet sie und strahlt mich an.
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