In deinem Schatten
absolut still sein, denn irgendwo ist Tessa
.
Doch eigentlich wusste sie längst, dass es nicht Tessa war, deren Gegenwart sie spürte.
Maddie ging zurück ins Büro und sah sich anschließend noch einmal im Ballettsaal um. Irgendwie hatte sie die – illusorische – Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Tessa hier doch irgendwo steckte. Vielleicht machte sie ja gerade eine höchst komplizierte Dehnübung und hatte dabei die Zeit übersehen.
Nichts.
Nada
. Sie rief zögerlich Tessas Namen, doch aus den kleineren Tanzstudios, die die Dayforths an freiberufliche Tanzlehrer für Tango, Hip-Hop und, ja, auch für Bauchtanz vermieteten, kam keine Antwort.
So langsam bekam Maddie wirklich Angst. Sie ließ ihre Tasche von der Schulter gleiten und kniete sich rasch hin, um nach ihrem Handy zu kramen, das irgendwo in dem bunten Durcheinander aus goldenen Pailletten und grüner Seide stecken musste. Verdammt, dachte sie, ich wusste, dass das passieren wird … Wobei sie sich nicht ganz sicher war, was genau dieses “das” eigentlich war. In der Tasche befand sich auch eine kleine Taschenlampe – das Glendower Building war berüchtigt für seine Stromausfälle – und Maddies Geldbörse, die sie sich mitsamt dem Pfefferspray nun in ihre Manteltasche steckte.
An die ABA, die American Ballett Academy, zu wollen war
eine
Sache – Maddie wusste nur zu gut, wie wenige Studenten jedes Jahr aufgenommen wurden und dass aus den unzähligen Bewerbern nur die absolut Besten ausgesucht wurden – sich dafür in Gefahr, vielleicht sogar in Lebensgefahr zu begeben, war etwas ganz anderes.
Obwohl man, dachte sie, genau das bereitwillig tat, wenn man so ehrgeizig wie Tessa war. Maddie dachte an ihre eigene Teenagerzeit zurück, als Diätpillen und Blutflecke auf ihren Spitzenschuhen an der Tagesordnung gewesen waren. Vor ein paar Tagen war sie um Mitternacht hier gewesen und hatte Tessa unermüdlich und mit eiserner Disziplin ihre Sprünge –
grand jetés
und
sautes de basque
– quer durch den Ballettsaal machen sehen, als wäre sie ein Gladiator, der sich auf einen Kampf um Leben oder Tod vorbereitet. Zusätzlich zu Tessas enormer Begabung kam noch ihr unablässiges Streben nach technischer Perfektion, was auch daher rührte, dass ihr in ihrem kurzen Leben bisher so vieles versagt worden war.
Während dieses ersten Gesprächs vor sechs Monaten hatte Tessa lediglich von ihren Eltern erzählt, die sie “für verrückt” hielten. Erst später – um genau zu sein exakt eine Woche später, als nämlich Charmian Dayforth Maddies zwei Bauchtanz-Kurse wegen eines zusätzlichen Ballettkurses für Kinder gestrichen hatte und sie sich daher aus finanziellen Gründen eine Mitbewohnerin suchen musste – hatte Maddie erfahren, wie hart dieses zierliche Mädchen mit den dunklen Augen hatte kämpfen müssen, um überhaupt tanzen zu dürfen.
Tessa wusste um die harte Konkurrenz, der sie sich in New York stellen musste. Sie hatte El Paso ohne einen Cent in der Tasche verlassen und sich sofort zwei Jobs gesucht, war morgens um halb fünf aufgestanden und hatte für Mrs. Dayforth Büroarbeiten erledigt und so ihre Ballettstunden abgearbeitet. Es hatte Abende gegeben, an denen Maddie nach ihrem Auftritt im “Al-Medina” oder dem “Algerian Marketplace” noch in der Tanzschule vorbeigekommen war und Tessa auf dem Sofa im Büro vorgefunden hatte, wo sie völlig erschöpft eingeschlafen war.
Maddie schaltete die Taschenlampe ein, ließ ihre Tasche neben Tessas Tasche im Ballettsaal liegen und trat wieder hinaus in den dunklen Flur.
“Tessa!” Ihre Stimme hallte überlaut in den leeren Korridoren. “Tessa, hörst du mich?” Die Taschenlampe war nicht einmal so groß wie ihre Hand, und der Lichtschein reichte kaum einen Meter weit. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie die Lichtschalter im Flur fand, und das düstere, gräuliche Licht, das schließlich aufflackerte, war kaum weniger deprimierend als die völlige Dunkelheit.
Der große Tanzsaal, das kleine Studio, der Stepptanz-Raum … alles finster. Es gab im nächsten Stockwerk noch einen zweiten großen Saal, dessen Höhe sich allerdings nicht über zwei Etagen erstreckte, sowie einen mittelgroßen Raum, in dem Maddie ihre Bauchtanz-Damen in die Geheimnisse der sogenannten Isolation – dem voneinander unabhängigen Drehen von Oberkörper und Hüften –, des Shimmys und des Hüftfalls eingeweiht hatte. Tessa war nirgendwo. Auch nicht im großen Umkleideraum, obwohl dort etwas, dass
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