In deinem Schatten
denken musste – fragte Maddie: “Was hast du eigentlich im sechsten Stock getan? Warum bist du hinaufgegangen?”
“Ich weiß nicht …”, antwortete Tessa zögerlich. “Mir kam es vor, als hätte ich irgendein Geräusch gehört. Oder Stimmen.” Sie zog die schwarzen Augenbrauen über ihrem hübschen Näschen zusammen und sah Maddie wieder von der Seite an. “Aber vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.”
“Hat jemand nach dir gerufen? Oder … oder dir etwas zugeflüstert?”
Tessa schüttelte den Kopf. “Geflüstert?”
Maddie bekam eine Gänsehaut, als sie an den hasserfüllten Ton und die entsetzlich vulgären Worte dachte. War es tatsächlich Phil Cooper gewesen? Es war schwer, diese heisere Stimme mit der unbekümmerten Freundlichkeit des Klavierspielers in Verbindung zu bringen. Andererseits, dachte sie, war sie Sandy gegenüber anfangs ja auch nicht misstrauisch gewesen.
Das Licht der Straßenlaternen reflektierte sich auf den Laken, mit denen Maddie ihr “Schlafzimmer” vom Rest des großen Einzimmerapartments abgetrennt hatte. Sie lag wach in ihrem Bett, beobachtete die Lichter auf dem weißen Stoff und dachte über Sandy nach.
War es wirklich zehneinhalb Monate her, dass sie diese tiefe Stimme am Telefon “Mrs. Weinraub?” hatte sagen gehört?
“Ich
war
Mrs. Weinraub”, hatte Maddie forsch geantwortet. “Aber ich bin nicht mehr mit Sandy Weinraub verheiratet.” Und sie hatte sich sofort:
Oh Gott, nicht schon wieder eine Inkassofirma
… gedacht. Obwohl sie nicht länger für seine Schulden verantwortlich war, lebte sie immer noch in der ständigen Angst, dass überraschend ein Gläubiger bei ihr an der Tür klopfte oder irgendein neues juristisches Problem auftauchte, durch das sie wieder in den Wahnsinn von Sandys Leben hineingezogen wurde.
Doch die tiefe Stimme hatte gesagt: “Hier spricht Officer O’Neill vom New York Police Department. Mr. Weinraubs Leiche wurde heute Morgen von seinem Vermieter gefunden. Er scheint eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Wir möchten, dass Sie zu uns kommen und ihn identifizieren.”
Es kam ihr immer noch vor, als sei es erst vorige Woche passiert.
Hatte er sie eigentlich die ganze Zeit angelogen? Die Antwort auf diese Frage versuchte Maddie immer noch zu ergründen. Nichts in ihrer friedlichen – wenn auch vom Tanzen besessenen – Kindheit hatte sie auf die Ehe mit einem Mann vorbereitet, dessen Leben sich nur um Drogen und deren betäubende Wirkung drehte. Und daher war es ein enormer Schock gewesen, zu entdecken, wie sich hinter der Fassade von Intelligenz und Charme ein Abgrund an Sucht und Lügen auftat. Sandy um die Trennung zu bitten war das Schwerste gewesen, was sie je getan hatte. Danach hatte sie fast ein Jahr mit seinen flehentlichen Bitten am Telefon gelebt, mit dem verzweifelten Betteln nach Geld – und der Angst, Sandy eines Tages auf der Straße als Obdachlosem gegenüberzustehen.
Und dann war er gestorben.
Eines natürlichen Todes – falls man das Ergebnis einer lebenslangen Drogen- und Alkoholsucht “natürlich” nennen konnte.
Und wenn sie an die neun gemeinsamen Jahre zurückdachte, konnte sie ihn immer noch weder hassen noch wütend auf ihn sein. Stattdessen musste sie daran denken, wie alles begonnen hatte: Als sie zum ersten Mal den Seminarraum für kreatives Schreiben in Tulane betreten hatte und überwältigt von dem versonnenen und immer leicht amüsierten Lächeln des jungen Lehrers gewesen war. In böswilliger Absicht hatte er ihr Leben bestimmt nicht zerstört.
Alle Leute, mit denen sie darüber geredet hatte, sagten, dass so etwas einfach passierte, wenn man mit einem Junkie zusammenlebte.
Beziehungsweise mit einem Mann zusammenlebte. Maddie wusste nicht genau, was von beiden das Problem gewesen war. All die Versprechungen, all die Lügen und all die Dinge, die sie aufgegeben hatte, damit die Beziehung mit jemandem funktionierte, der mehr als die Hälfte der Zeit nicht Herr seiner Sinne war … War es, fragte sie sich, am Anfang, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, wirklich anders gewesen? Als sie das College geschmissen hatte, damit sie mit ihm nach New York gehen und seine angebetete Ehefrau und gleichzeitig seine große Bewunderin sein konnte? Oder war sie einfach zu naiv gewesen, um es zu bemerken?
Sie streckte die Hand aus, um Baby hinter den schwarz-weißen Ohren zu kraulen. Die Katze legte eine Pfote auf Maddies Handgelenk und leckte ihr die Finger. Maddie hatte den
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