In deiner Hand
miserabler Schauspieler. Vermutlich trug er nicht einmal eine Beule davon.
„Was ist mit dir los? Seit wann bist du denn so aggro?“, rief Annie und schüttelte missbilligend den Kopf. Sie stand in der offenen Tür und schaute mich stirnrunzelnd an. Die Schüler strömten auf den Flur, aber sie ignorierte das Gedrängel hinter sich. „Du hast keine Schulsachen dabei, machst Farmer blöd an und dann greifst du auch noch Erik an! Also echt, Verry!“
„Er hat mich angefasst!“, verteidigte ich mich. „Außerdem hab ich ihn gar nicht angegriffen! Ich habe nur … nachgeholfen!“
Sie pflanzte ihren Hintern neben mir auf die Bank und lehnte sich an die deckenhohen Fenster.
Mein Magen beschwerte sich lautstark, als sie ihr Pausenbrot auspackte und mir der Duft selbstgebackener Brötchen und frischer Salami in die Nase stieg. Annies Mum war Bäckerin, der Vater Metzger. Gab es eine perfektere Zusammenstellung? Jeden Tag warmes, knuspriges Brot und saftiger Schinken.
Lecker!
Unwillkürlich leckte ich mir über die Lippen und fixierte ihr Essen mit hungrigem Blick.
„Gefrühstückt hast du also auch nicht?“ Sie musterte mich wie meine Mutter es heute Morgen hätte tun sollen.
„Hab doch verpennt!“, schmollte ich.
„Ach Verry! Du bist so ein Chaot!“ Annie schmatzte mir einen Kuss auf die Nasenspitze und drückte mir die Hälfte ihrer Mahlzeit in die Hand.
„Du wirst dich entschuldigen müssen!“ Sie kaute ausgiebig, ganz sicher dreißig Mal, so wie es angeblich gesund sein soll, damit irgendwelche Kohlenhydrate vorverdaut werden konnten, oder so. Ich schluckte nach vier Bissen.
„Niemals! Der Gorilla hat mich befummelt!“
„Nicht bei ihm!“
Annie warf ihre dunklen, schulterlangen Locken in den Nacken, zupfte ihr
Kiss
T-Shirt zurecht und schleckte einen Krümel aus ihrem Mundwinkel.
„Bei Rex!“
Mir fiel das Essen aus dem Mund.
FUCK!!!
Ich hatte mein Ultimatum total vergessen!
Rex, unsere Direktorin, hatte mich vor zwei Monaten zur Brust genommen. Ich war unangenehm aufgefallen, weil ich einem Kerl die Hand gebrochen hatte. Natürlich gab es einen Grund, aber den kaufte sie mir nicht ab. Der schmierige Scheißkerl hatte mir an den Arsch gepackt! Allerdings war er mehr als nur ein bisschen zu weit gegangen! Er hatte seine Hand von oben in meine Hose geschoben und meinen blanken Hintern befummelt. Ich hatte folglich ein kleines bisschen die Beherrschung verloren. Das war ja wohl verständlich!
Rex sah das anders. Immerhin war der Scheißkerl ihr Sohn.
Sie drohte mir mit einem Schulausschluss. Ganze vier Wochen! Meine Mum wäre total ausgeflippt!
Eine halbe Stunde verzweifelter Schleimversuche war vergangen, ehe sie die Drohgebärden einstellte und mir einen Vorschlag unterbreitete. Ein halbes Jahr gab sie mir Zeit mich zu ändern und zu beweisen, dass mir die Schulausbildung am Herzen lag. Ein halbes Jahr durfte ich keinem Kerl so nahe kommen, dass ich ihm die Rippen oder ähnliches brechen konnte. Klar, dass sie das eigentlich nur auf ihr Jüngelchen bezog. Aber ich stimmte widerwillig zu. Gerade mal zwei Monate hatte ich durchgehalten! Kein Meditationskurs dieser Welt konnte meine Mum dazu bringen, diese Niederlage stillschweigend hinzunehmen. Dieses Mal würde sie mir den Arsch aufreißen!
Ich stöhnte.
„Du hast es vergessen“, warf mir Annie vor. „Was ist nur los mit dir, Verry?“
„Keine Ahnung“, gestand ich und zupfte an meiner schwarzen Jeanshose. Die cremefarbene Bluse passte überhaupt nicht dazu und ich ärgerte mich maßlos, dass ich blindlings in den Kleiderschrank gegriffen hatte. Ich sollte mir das unbedingt abgewöhnen! Schon wieder spürte ich die Wut in meinem Bauch, aber diesmal galt sie ganz allein mir. Wieso hatte ich mich von diesem Idioten nur so provozieren lassen?
„Was hältst du eigentlich von Erik?“
„Scheiß Idiot!“, schnauzte ich stinksauer und rupfte den unteren Blusenknopf ab.
Annie schlug die kurzen Beinchen übereinander und rieb über ihr Knie. Wir zwei gaben wirklich ein merkwürdiges Paar ab.
Ich - groß, schlank und strubblige kurze Haare. Annie – Zwei Köpfe kleiner, ein bisschen pummelig und wunderschöne, glänzende Locken.
Annie war ein sehr aufmerksames, hilfsbereites, kontaktfreudiges Persönchen. Ich hingegen hörte nie richtig zu, dachte nicht einmal im Traum daran, einer Oma über die Straße zu helfen und schottete mich ab. Bis auf Annie konnte ich mit keiner der Tussen in unserem Jahrgang etwas anfangen. Von den Typen mal ganz abgesehen.
In
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