In Den Armen Der Finsternis
sah vor meinem geistigen Auge wieder diese junge, braunhaarige Frau, die neben einer ebenfalls jungen, starken Mary stand.
Seine Mutter. Schmutzig und von Blut bedeckt. Und dennoch nur um seine Sicherheit besorgt.
Diese Vision zu beschwören war einfacher, als sich an einen verblassten Traum zu erinnern. Ich wollte es Grant erzählen, aber ich wusste nicht, wie. Jedenfalls nicht hier, und noch nicht.
Jack wirkte keineswegs glücklich. »Energie ist nicht einfach immer dann verfügbar, wenn jemand sie braucht. Wenn sie bereits da ist, kann sie manipuliert werden, verwandelt werden. Aber um größere Veränderungen zu bewerkstelligen, braucht man etwas Stärkeres. Und Lichtbringer ziehen die Energie aus sich selbst, um ihre Gaben einzusetzen. Ziehen Sie zu viel Energie, dann sterben sie. Also erzeugen sie Bänder.« Er musterte Grant und mich aufmerksam. »Um dann voneinander die Stärke zu ziehen, die sie brauchen.«
»Kannst du die Verbindung auflösen?«, wollte Grant wissen. »Jack, wird ihr das schaden?«
»Du brauchst mich!«, protestierte ich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete der alte Mann auf Grants Frage hin. »Für dieses Band gibt es kein Beispiel, so dass auch niemand weiß, wie es euch beide beeinflussen wird. Lichtbringer gehen normalerweise immer Verbindungen mit Menschen ein. Und Maxine … ist kein normaler Mensch.«
Ich kniff Grant in die Seite. »Maxine ist zufällig hier.«
Mary gab einen erstickten Laut von sich, schob den Ärmel sorgfältig zurück und musterte die frischen Narben auf ihren Armen. »Nicht normal. Zufällig anwesend.« Sie schloss die Augen. »Ich erinnere mich an den Tod«, flüsterte sie. »Ich war so
scharf. Die schärfste meiner Schwestern. Wir beschützten. Und wir töteten.«
Mörder. Ich erinnerte mich daran, wie Mr. Koenig sie genannt hatte. Ich erinnerte mich vollkommen klar an alles, was er gesagt hatte. Auch an das, was er über Jack gesagt hatte.
Ich sah den alten Mann nicht an. Ich spürte das Medaillon zwischen Grant und mir und blickte ihm in die Augen. Er betrachtete mich. Dann schob er eine Haarsträhne zärtlich aus meinem Gesicht und beugte sich zu mir, um mich auf den Mund zu küssen.
Danach drehte er sich halb um und warf Jack einen warnenden Blick zu. »Gibt es noch mehr, was du uns verschwiegen hast?«
»Ja«, gab der alte Mann zu, aber er klang zerstreut, da er Mary anstarrte. Seine Stimme klang ein wenig melancholisch, fast schon traurig und unbehaglich. Ich glaubte nicht, dass das etwas mit uns zu tun hatte, jedenfalls nicht in diesem Moment. Stattdessen hatte ich das Gefühl, es müsse ihm gerade etwas eingefallen sein, ein Gedanke an irgendetwas Schreckliches. Ich betrachtete ihn, wie er reglos im Schatten am Rand des Bettes saß: mein Großvater, der Angst hatte, sich zu bewegen und vollkommen in Gedanken versunken war.
»Alter Wolf«, flüsterte ich. »Was ist denn los?«
»Ich habe ihn gehasst«, antwortete Jack ruhig. In seinen Worten klang Staunen und Trauer mit. »Ihn, Mr. Koenig, meinen Bruder. Aber er war einer von uns, und ich kannte ihn schon so lange, wie ich mich selbst kannte. Wir haben keine Kinder. Wir können in unserer wahren Gestalt keine Kinder zeugen. Wenn einer von uns stirbt, dann bleibt nichts von ihm übrig. Und wir anderen spüren es, in unserem Inneren. Wir spüren es so, als würde ein Teil von uns selbst verschwinden -
und der Schmerz vergeht niemals. Er wird dumpfer, aber er stirbt nie.« Er lächelte, grimmig oder bitter; es war eine fast schon unheimliche Grimasse. »Ich nehme an, Abwesenheit ist eine andere Form von Unsterblichkeit.«
»Ich dachte, du wolltest seinen Tod«, bemerkte Grant.
»Das wollte ich auch«, räumte Jack ein. »Aber es gibt immer einen Preis.«
»Andere werden kommen«, schnarrte Zee und spähte über die Bettdecke. Rohw und Aaz richteten sich auf und rieben sich die Augen. »Manipulator. In diesem Augenblick fühlen sie, was du fühlst.«
Ich zog mir das Kissen über den Kopf. »Ein klassisches Dilemma. Denn hätten wir Mr. Koenig nicht getötet, hätte er uns vernichtet.«
»Und obwohl wir ihn jetzt vernichtet haben«, setzte Grant fort, »haben wir uns nur ein wenig Zeit erkauft.«
Zeit. Zeit für den Gefängnisschleier. Zeit für Avatare. Zeit, um zu leben, Zeit zu kämpfen, Zeit zu sterben.
Zee ergriff meine Hand und sah mir in die Augen. »Wir sind stark«, flüsterte er, während Dek und Mal so heftig schnurrten, dass sie geradezu vibrierten. »Süße Maxine. Wir sind
Weitere Kostenlose Bücher