In den Armen der Nacht
Leute zu finden, die deiner Familie wehgetan haben.«
»Sie haben ihnen nicht wehgetan. Sie haben sie getötet. Sie sind alle tot.«
»Ja, ich weiß. Das ist entsetzlich.« Mira behielt ihre ruhige Stimme bei. »Das ist das Schlimmste, was passieren kann.«
»Ich wünschte, es wäre nicht passiert.«
»Das wünschte ich mir auch. Aber wenn wir uns setzen und miteinander reden, können wir vielleicht helfen.«
»Sie haben Linnie umgebracht.« Nixies Unterlippe fing gefährlich an zu zittern. »Sie dachten, sie wäre ich, und jetzt ist sie tot. Ich hätte nicht nach unten gehen dürfen.«
»Manchmal tun wir alle Dinge, die wir nicht tun sollen.«
»Aber Linnie nicht. Ich war böse, und sie war lieb. Und jetzt ist sie tot.«
»Du warst nicht wirklich böse«, erklärte Mira sanft, nahm Nixie bei der Hand und führte sie zu einem Stuhl. »Warum bist du nach unten gegangen?«
»Ich wollte eine Orangenlimo trinken. Eigentlich darf ich das nicht, wenn ich nicht vorher um Erlaubnis bitte. Eigentlich darf ich nachts nicht einfach aufstehen und in die Küche gehen. Meine Mama –«, sie brach ab und presste ihre Knöchel vor die Augen.
»Deine Mama hätte nein gesagt, also war es falsch von dir, dass du einfach heimlich runtergegangen bist. Aber jetzt wäre sie sehr froh, dass dir nichts passiert ist, glaubst du das nicht auch? Sie wäre glücklich, dass du dieses eine Mal ungehorsam warst.«
»Vielleicht.« Der Kater sprang ihr auf den Schoß und sie strich ihm über das Fell. »Aber Linnie –«
»Es war nicht deine Schuld. Nichts von dem, was in der Nacht passiert ist, war deine Schuld. Du hast es nicht verursacht, und du hättest es auch nicht verhindern können. «
Nixie hob den Kopf und sah sie reglos an. »Vielleicht hätte ich ja alle anderen geweckt, wenn ich laut geschrien hätte. Dann hätte mein Dad gegen die bösen Männer kämpfen können.«
»Hatte dein Vater eine Waffe?«, fragte Eve, bevor die Psychologin etwas sagen konnte.
»Nein, aber –«
»Die beiden Männer hatten Messer, und er war unbewaffnet. Wenn du geschrien hättest, wäre er wahrscheinlich wirklich aufgewacht. Aber dann wäre er jetzt trotzdem tot. Der einzige Unterschied wäre, dass die Männer mitbekommen hätten, dass noch jemand im Haus ist, und dann hätten sie Jagd auf dich gemacht und dich auch noch umgebracht.«
Mira sah Eve warnend an und wandte sich dann wieder Nixie zu. »Lieutenant Dallas hat mir erzählt, dass du sehr stark und sehr mutig gewesen bist. Und da auch sie selber stark und mutig ist, weiß ich, dass sie die Wahrheit sagt.«
»Sie hat mich gefunden. Ich hatte mich versteckt.«
»Es war gut, dass du dich versteckt hast. Und es war gut, dass sie dich gefunden hat. Ich weiß, wie schwer es ist, die Dinge zu hören, die Lieutenant Dallas eben gesagt
hat, aber sie hat Recht. Du hättest nicht mehr tun können, um deiner Familie zu helfen. Aber jetzt kannst du noch etwas für sie tun.« Damit übergab Mira mit einem kurzen Nicken wieder Eve das Wort.
»Hör zu, Nixie. Es ist bestimmt nicht leicht für dich, aber je mehr du mir erzählen kannst, umso besser weiß ich Bescheid. Das hier ist mein Aufnahmegerät.« Sie stellte den Rekorder Mira und dem Mädchen gegenüber auf den Tisch. »Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen. Anwesend sind Lieutenant Eve Dallas, Dr. Charlotte Mira und die zu vernehmende minderjährige Zeugin Nixie Swisher. Okay, Nixie?«
»Okay.«
»Weißt du, um wie viel Uhr du aufgestanden bist?«
»Es war kurz nach zwei. Vielleicht zehn nach. Das habe ich auf meiner Jelly Roll gesehen.«
»Das ist eine Armbanduhr«, übersetzte Mira für die kinderunkundige Eve.
»Was hast du getan, nachdem du aufgestanden bist? Ich meine, was genau?«
»Ich bin ganz leise in die Küche runtergeschlichen. Weil Linnie nicht aufstehen wollte, habe ich kurz überlegt, ob ich Coyle wecken soll. Aber vielleicht hätte er mich dann verpetzt, und außerdem war es viel aufregender, ganz alleine wach zu sein. Ich bin in die Küche runtergegangen und habe mir eine Orangenlimo aus dem Kühlschrank genommen, obwohl ich das nicht durfte. Dann habe ich mich in die Frühstücksecke gesetzt und was getrunken.«
»Was ist dann passiert?«
»Ich habe gesehen, wie der Schatten reingekommen ist, aber er hat mich nicht gesehen. Erst habe ich mich auf die Bank gelegt und dann bin ich in Ingas Schlafzimmer geschlichen.«
»Wie hat der Schatten ausgesehen?«
»Ich glaube, wie ein Mann. Es war furchtbar
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