In den Spiegeln - Teil 1 - Das Hause der Kraniche
zu. Mir kam der Weg übertrieben lang vor. Ich bemerkte, dass es hier kleine schwarze Drehschalter fürs Licht gab, wie sie in Kellern unter Mietshäusern eben vorkommen. Weiß Gott, warum Manzio darauf bestand, dass wir sie nicht benutzten und stattdessen mit den Taschenlampen herumfuchtelten.
Ich leuchtete auf meine Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Mist. Was tat ich hier? Doch ich hatte keine treffende Ausrede. Noch vor wenigen Monaten hätte ich gejammert, dass ich am nächsten Tag früh aufstehen muss. Dass mein kalter Bürostuhl auf mich wartete, damit ich darauf optimistisch in die Welt lächeln konnte, während einige Investoren aus Nordrhein-Westfalen mit dem Geschäftsführer wie Thermalbadbesucher im Zeitlupentempo durch die Firma stolzieren und über Dinge sprechen, von denen ich nichts verstand. Von denen vielleicht niemand etwas verstand. Verfluchte Schwarzmagier in Anzügen. Satanisten...
Welche Ausrede habe ich nun?
Manzio riss mich aus den Gedanken.
»Schau mal, ist das nicht phantastisch?« flüsterte er mir zu. »Ist das nicht phantastisch?!«
Ich stellte mich neben ihn und blickte nach oben. Wir beobachteten die Welt. Ein kleines, schachtartiges Fenster zeigte nahe der Decke einen Ausblick hinaus aus diesen Katakomben. Das Glas war zerschlagen, nur wenige Scherben ragten noch aus dem Holzrahmen. Ein direkter, zu einem kleinen Quadrat eingeengter Blick in den Himmel — nicht größer als ein 14-Zoll-Monitor. Der Mond strahlte wie eine Offenbarung. Dunkle dramatische Wolken zerschellten an ihm, während draußen die letzten Regentropfen sanft an die Blätter der Gebüsche trommelten. Und in der Mitte der Erscheinung hing ein feuchtes, mit Wasserperlen geschmücktes Spinnennetz, in dessen Mitte eine große Kreuzspinne saß. Es war wie ein Bild aus einem Hergé-Comic. Es war erstaunlich.
»Es heißt, dass alle Dinge Zeichen sind«, sagte Manzio, ohne seine Augen von dem Fenster unter der Decke zu wenden. »Und dass alles, was uns begegnet, eine Entsprechung hat. Es soll uns helfen, zu verstehen, wohin uns das scheinbar nicht vorhersagbare Schicksal treibt. Aber wir können die Spuren im Sand der Welt nicht lesen.«
Manzio. Ja, Manzio. Er war mir stets einen Satz voraus. Immer wenn ich begann, den Banalitäten dieser Welt zu unterliegen, war er da und zerschmetterte die Pforten der Normalität. Das Schicksal stellte mir ständig Wächter zur Seite, die darauf achteten, dass ich kein Zombie mit Krawatte wurde.
Wir starrten eine ganze Weile auf das Fenster. Auf die Spinne, die sich die minutenlang keinen Augenblick regte. Draußen hob sich langsam der Wind. Wir konnten es an der leichten Bewegung des Netzes sehen. Ich begriff, wie nahe äußerste Hässlichkeit und äußerste Schönheit sich stehen. Wie sie sich gegenseitig aufheben. Und nur der Mensch muss sich entscheiden, ob er Ekel oder Entzückung verspürt. In einem solchen Augenblick ist mehr Wahrheit, als in den meisten Büchern. Außer der Mensch entscheidet sich nicht und ist nur Treibgut im Strom seiner Wahrnehmung. Und genau davon handelt unsere Geschichte. Von einer Welt, die sich verändert — unter der formgebenden Kraft der Entscheidungen, unter unseren neugierigen Blicken. Aber Sie fragen sich sicherlich, ob ich mir das schon damals gedacht habe. Nein, sicher nicht. Damals ahnte ich noch gar nichts. Nichts. Aber ich denke es nun, während ich mich daran erinnere. Eine sehr lebendige Erinnerung. Ein Augenblick, der noch nicht ganz Vergangenheit und noch immer ein wenig Gegenwart ist.
Die Spinne regte sich plötzlich. Nur eine kleine Bewegung der Beine entlang der silbernen, feuchten Fäden. Dann wieder der phantastische Nihilismus, hinter dem sich atemraubende Wachsamkeit verbirgt. Wir blickten uns an, als hätten wir gerade eine Sternschnuppe gesehen. Ich sah Manzio in dem kalten Mondlicht lächeln.
»Hör mal...« Ich räusperte mich und versuchte ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen. »Als ich ein Kind war, wollte ich immer in irgendwelche Höhlen und Katakomben klettern...«
Manzio zog die Augenbrauen hoch. »Und jetzt nicht mehr?«
Ich erinnerte mich plötzlich an damals. Wie viele Jahre hatte ich nicht mehr daran gedacht? Nur gelegentlich, wenn ich offene Löcher im Boden sah, Dampf der aus Kanaldeckeln aufstieg und eiserne Souterraintüren mit schweren Schlössern, wurde mir bewusst, dass es da etwas gab, das wie ein Schatten an meinen Fußknöcheln klebte. Dunkle Gänge und unterirdische Labyrinthe mied ich
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