In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
versöhnlich, während zeitgleich sein Mobiltelefon klingelte. Er kramte wieder etwas zerstreut in seinen Taschen und zauberte schließlich aus dem Trenchcoat ein silbernes Handy hervor, dessen Antenne er langsam und etwas unbeholfen herauszog und das er sich dann ans Ohr hielt.
Er sagte ungefähr sechsmal »ja« und legte wieder auf.
»Neuer Stand der Dinge«, erklärte er mir. »Die Polizei hat in den Trümmern eine Menge Ungereimtheiten gefunden. Schusswaffen mit Schalldämpfern, leere Hülsen, Leichen mit seltsamen Wunden. Sie sind auf dem Weg hierher und offensichtlich haben sie auch ein paar Oktagon-Leute dabei. Kennst du das Oktagon?«
»Sie haben mich das schon gefragt«, röchelte ich.
»Das Oktagon denkt, du leidest an der Holophrenie. Deswegen wollen sie dich aus dem Verkehr ziehen. Behandeln. Doch warum will dich die Kerygma-Gruppe? Ganz sicher nicht wegen der Holophrenie.« Er lachte auf, als hätte er gerade einen Insiderwitz gemacht. Doch die Pointe entzog sich mir.
Er nickte schließlich nachdenklich und kramte wieder das Telefon hervor. Er drückte nur eine Taste und wartete.
»Kirké? Wie sieht es aus?« Er lief während des Telefonats auf und ab und sah manchmal zu mir herüber. »Ich verstehe. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich mit ihm gehe.«
Am anderen Ende der Leitung gab es Proteste. Lichtmann hörte sich geduldig irgendwelche Einwände an.
»Ja, ich weiß genau, wie viel Zeit das kosten wird. Aber ich fürchte, wenn wir zulassen, dass die ihn umlegen oder verschwinden lassen, werden wir vielleicht nie erfahren, was hier los ist.«
Er klappte das Telefon wieder zu und sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.
»Mann, Junge...« Er wirkte jovial. Wie ein Bussard, bevor er zuschlägt. »Es gibt Dinge, die brauchen Zeit. Die Sache, die ich Dir nun vorschlagen möchte, braucht beim ersten Mal mindestens drei Tage, im Notfall eine Stunde. So wie ich es sehe, haben wir kaum fünfundzwanzig Minuten.«
»Sie sind nicht hier, um mich umzulegen«, sagte ich.
»Ich war hier, um dir einige Fragen zu stellen«, erwiderte er. »Jetzt möchte ich dir eine Wahl geben.«
»Eine Wahl?«
»Wie wird es jetzt wohl weitergehen? Was sind deine Pläne?« Er warf dabei einen Blick auf meine reglosen Beine.
Es gab nichts, das ich darauf sagen konnte. Im Augenblick gab es für mich kein »weiter«. Es gab kein »morgen«, keine »Zukunft«, keine Pläne. Es gab nur das Gas in der Leuchtstoffröhre über mir. Alles fühlte sich künstlich an.
»Dein Arzt würde dich diese Dinge nie fragen, nicht einen Tag nach dem, was passiert ist. Aber Zeit ist in meinem Fall ein großer Luxus, und ich habe nicht genug davon, um auf deine seelische Genesung zu warten. Das ist mein Problem. Verstehst du was ich sage?«
Ich verstand es nicht.
»Es gibt ganz gute Rollstühle auf dem Markt. Und du wirst nach paar Monaten kräftige, drahtige Armmuskeln haben. Viele Galerien und Kinos in Hamburg sind rollstuhlgerecht. Das ist also nicht das Ende der Welt, obwohl es dir vielleicht jetzt so erscheinen mag.«
Angestrengt versuchte ich mich auf seine Worte zu konzentrieren. Ich öffnete und schloss die Augen, blickte ihn an...
»Aber da ist noch die Sache mit der Explosion. Bald wirst du zwischen dir und der Polizei mehr brauchen als Dr. Bondy.«
Ich blickte von ihm weg. Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen.
»Jan-Marek... Denk nach. Was geschieht hier? Es ist wichtig, dass du wenigstens zum Teil selbst darauf kommst, denn das macht alles andere leichter. Wenn du keine Antworten weißt, stelle die richtigen Fragen.«
Ich wusste nicht, was er damit meinte. Ich sah ihn erneut an und versuchte zu verstehen. Sein Bild war verschwommen.
»Wer war die Frau in dem Keller? In München...« fragte ich mit brüchiger Stimme.
»Sie nennt sich Talitha. Der ursprüngliche Name spielt heute keine Rolle mehr. Sie geriet in die Hände unserer Gegner. Aramis hat sie zusammen mit dir gerettet. Und als gestern die Kerygma-Leute kamen, um dich zu entführen und deine Wohnung zu zerstören, war Talitha zur Stelle, um dich da raus zu holen. Ich schätze, ihr seid jetzt quitt.«
»Sie war nicht dort!« rief ich gereizt.
Er beugte sich noch weiter vor.
»Du weißt genau, was passiert ist. Du versuchst nur verzweifelt die Schranken aufrechtzuhalten und die Wirklichkeit auszusperren.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen...«
»Du hast nie wirklich die Frage an dich herangelassen, was mit deinem Freund in München passiert ist,
Weitere Kostenlose Bücher