Vom Schlafen und Verschwinden
1.
Alles ist voller Zeichen.
Allein schon ein Briefumschlag: Da sind die Postwertzeichen, Stempel und Strichcodes, die Schrift des Absenders – gedruckt oder mit der Hand geschrieben, mit Laserdrucker, Tinte, Kugelschreiber oder Filzstift.
Seltener sieht er Schreibmaschinenschrift, öfter Buchstaben hinter knisternden Transparentpapierfenstern. Wenn er einen Brief zwischen Daumen und Zeigefinger hält, spürt er sofort, ob der Brief über oder unter zwanzig Gramm wiegt. Ist es nur ein Gramm darüber, schaut er sich den Umschlag noch einmal gut an. Es ist seine Entscheidung.
Es gibt weiße mit schwarzen Trauerrändern, graue aus Altpapier oder solche aus dickem, weichem Bütten in der Farbe von Sand und Federn. Umschläge können Flecken, Knicke, verwischte Adressen und nicht genügend Briefmarken aufweisen. Etwas Besonderes ist das Wasserzeichen, dessen Umriss wie eine verschwiegene Wahrheit aufscheint, sobald Licht auf das Papier fällt.
Er ist der Briefträger, das ist, was er tut. Er trägt Briefe zu den Bewohnern von Grund. Er kennt Grund. Jeden Briefkasten, jede Straße, jeden Namen, jedes Haus, jeden Mann und jede Frau. Er weiß, welches Kind zu welchem Hund gehört, welcher Vater zu welchem Kind und welcher nicht. Er kennt jede Straßenlaterne, jede Ampel, jeden von funkelndem Scherbenstaub bedeckten Altglascontainer-Abstellplatz.
Jede Fahrradrampe an jedem Bordstein, jede Baustelle,jeden Kinderhandschuh, der auf einer Zaunlatte steckt, jede Zaunlatte, jede Treppe, jede Straße, Sackgasse, Einfahrt, jeden Feldweg, Schleichweg, Trampelpfad.
Den gesamten Straßenplan von Grund hat er sich einverleibt, und wenn er seine Runde macht, sieht er den krakeligen Verlauf seines Weges so vor sich, als verzeichne er ihn mit den Füßen auf einer Karte.
Er kennt das Dorf und das Neubaugebiet ebenso wie das Tiefgestade mit den Rheinauen, den Gemeinde-Kirschbäumen, dem Klärwerk, dem Recyclinghof und der alten Mülldeponie, die jetzt ein Wald ist, aber der Müll ist immer noch dort. Er kennt den Baggersee, das Kieswerk, das man nicht betreten darf, aber er kennt es trotzdem. Er kennt die Sandberge auf dem Gelände des Kieswerks, die demnächst abgetragen werden sollen. Er kennt die Altrheinarme und das Rheinufer, er weiß, wo die Fische sind, wo die Graureiher nisten, wo die Hirschkäfer kämpfen. Er weiß, dass aus dem See Ochsenfrösche steigen. Von Jahr zu Jahr werden es mehr. Er kennt jedes verrostete Ding, das irgendwer in den Wald gekippt hat, und er weiß auch, wem es gehört.
Er ist der Postbote, der Briefgeheimnisträger. Er gibt Botschaften weiter, verschlüsselte Karten und verschlossene Briefe. Er überbringt Nachrichten über Leben und Tod, Rechnungen und Abrechnungen, Liebesschwüre, Schuldbekenntnisse, Erbschaften, Lotteriegewinne, Klagen, ärztliche Untersuchungsergebnisse, Strafzettel, Ankunftszeiten. Die Botschaften kommen nicht nur in Briefen. Sie sind überall. Im V der Gänse, den langen gerippten Zeilen bestimmter Wolken, in den Verästelungen kahler Bäume, den Markierungen der Rinde, in den blinkenden Lichtern des rot-weißen Mastes für meteorologische Messungen, im welligen Sand des Sees, in den Asphaltrissen, der Flechtenschrift auf den Steinen an Bahndämmen und den nadeldünnen weißen Hieroglyphen auf vereisten Windschutzscheiben.
Er bückt sich nach jedem Zettel.
Er hebt die verlorenen Zeichen auf: Mitteilungen, die aus Hosentaschen gerutscht sind, Spickzettel aus einem Schulbuch, vergessene Listen in Einkaufswagen, hingekritzelte Telefonnummern auf Bierdeckeln, die vom Wind oder einem Besucher abgerissene Aufforderung, man möge nicht klingeln, weil das Kind schläft, und immer wieder unzustellbare Briefe mit unleserlichen Adressen und ohne Absender, nicht ausreichend freigemacht, Annahme verweigert, unbekannt verzogen.
Er hat Marthes Buch gefunden, die grüne Chorkladde, sie lag im Schilf. Die Seiten sind feucht geworden. Schwer und weich kleben sie aneinander, der Rücken ist gebrochen. Er kennt das Buch, Marthe hat es ständig bei sich getragen. Er hat gesehen, wie sie schrieb, den Hals über die Seiten gebogen, die Schulterblätter aufgerichtet, die Arme an den Körper gepresst. Sie schrieb nach dem Singen im Probenraum, auf der Treppe, im Wald an einen Baum gelehnt, hier unten am See.
Eine Seite liegt lose im Sand. Er hebt sie auf und legt sie vorne ins Buch. Es stimmt, er spricht nicht mehr. Aber Wasserzeichensprachen beherrscht er fließend, das lernt man in diesem
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