In den Spiegeln - Teil 3 - Aion
bis zum Boden reichte.
Apythia war in ihrer Weiblichkeit sehr ambivalent. Ihr Gesicht war nicht sehr ansehnlich. Ihre scharfe, große Nase und die kantigen Gesichtszüge mit den starrenden Augen waren geradezu hässlich und muteten geisteskrank an. Im Gegenzug dazu besaß sie einen hellenistisch wohlgeformten Körper mit wunderschönen Brüsten und reizvollen Hüften.
Ich hatte bis zum letzten Augenblick gehofft, die Begegnung mit ihr würde sich am Ende als überwiegend allegorisch herausstellen. Eine sprechende Statue oder so etwas ähnliches. Doch während ich langsamen Schritts durch den leeren Saal näher kam, musste ich feststellen, dass sie nicht nur keine Statue war, sondern — sollte sie jemals von ihrem Thron aufstehen — gute vier Meter groß war. Ein Überweib.
Nicht ganz ohne Scheu blieb ich zehn Schritte entfernt stehen. Sie saß vor mir, breit und mit gespreizten Schenkeln, mehr einem Mann ähnlich. Ihre Knie waren verdeckt von dem langen Rock. Ihren rechten Ellbogen stützte sie auf den Oberschenkel.
Dann öffnete sie den Mund und sprach, mit einer kratzenden Stimme, die an das Krachen einer alten Autokupplung erinnerte.
»Der Neuling ist hier. Hattest du eine angenehme Zeit?«
»Ist das bereits die Frage?« erwiderte ich.
Sie brach in ein schallendes Gelächter aus, so dass ich mich fragte, ob es die Decke des Tempels zum Einsturz bringen könnte. Ihre Stimme war wie eine Imitation von Diamanda Galás, gejagt durch tausende Marshall-Verstärker.
»Du willst also zur Sache kommen. Dann beginnen wir mit deinem Beneficium.« Apythia beugte sich leicht vor und fixierte mich wie eine Kobra mit ihren stechenden Augen. »Es ist Nacht. Du stehst auf dem Dach eines Hauses und beobachtest die Stadt. Da siehst du unten einen alten bärtigen Mann in schmutziger Kleidung. Er schiebt einen klapprigen Karren voller Müll vor sich her und ist betrunken. Er geht die Straße entlang, fasst sich plötzlich ans Herz und stürzt zu Boden. Warum hilfst du ihm nicht?«
Ich dachte an Lichtmanns Worte, betreffend Apythias Funktion als eine Sphinx. Das hier schien nicht der Ort zu sein, an dem man um sein gutes Image bangen musste.
»Weil er möglicherweise eine Mund-zu-Mund-Beatmung braucht und ich mich vor ihm ekle.«
Apythia hielt kurz inne, erstarrte und erinnerte in der Tat für einen Augenblick an eine Statue. Dann fuhr sie pragmatisch fort. »Stelle deine Frage.«
Ich hatte mir keine Frage überlegt. Ich glaubte tausende zu haben, doch jetzt in diesem Augenblick schien mir keine einzufallen. Ich fühlte mich wie ein bekiffter Typ, den der Verkehrspolizist auffordert, kräftig zu spucken.
Doch dann stockte etwas in mir. Plötzlich hatte ich dieses Gefühl von Gegenwart und Augenblick. Dieses Gefühl, das man einige mal im Leben beim Wurf eines Basketballs hat — wissend, dass der Ball im Korb landen wird, ohne dass es dafür die geringste rationale Voraussetzung gibt. Der perfekte Augenblick.
»Weshalb träume ich von Blut und Schmerz?« rief ich.
Sie starrte mir tief in die Augen. Ihr Blick besaß eine gefährliche Wildheit. Für einen Atemzug dachte ich, etwas sehr falsches gesagt zu haben.
»Weil Blut und Schmerz einmal dein Geschäft waren.«
»Ich verstehe die Antwort nicht!«
»Der Schlüssel ist bereits in deinem Besitz. Geformt zu einer Zahl. Du hast es nur nicht bemerkt. Die Frage ist damit beantwortet.«
Wieder erstarrte sie für einen Augenblick, wie ein Computer, der zwischendurch Daten speichern muss — fuhr aber sogleich fort. »Wie lautet dein Wunsch?«
»Ich will hier einfach raus«, sagte ich.
»So soll es sein«, erwiderte sie.
Sie begann ihren langen Rock hochzuziehen. Sie rollte ihn hoch, über ihre Knie, entlang ihrer Schenkel, über ihren Bauch. Während ich in ihre riesige Fut starrte, erfasste mich Licht, das aus ihrem Schoß hervor schoss, heller als jeder Scheinwerfer. Der Spalt schien zu wachsen und sich zu weiten. Ich trat zaghaft auf das Licht zu. Nach fünf Schritten stand ich direkt davor. Ich blickte hoch, dorthin, wo ich über mir Apythias Brüste und Gesicht vermutete, doch ich war zu sehr geblendet, vielleicht sogar blind, um etwas zu sehen. Es gab nur das Weiß und keine andere Farbe. Ich machte den letzten Schritt. Den Walk-In .
Fragment: Der Hyper-Albtraum #39
Ich habe ihn endlich gesehen. Ihn, dessen Namen ich kannte. In diesem einen Traum!
Wie getaucht in Honig, krieche ich auf dem Boden rückwärts, in einem beklemmenden Gang, der von Fackeln
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