In den Spiegeln - Teil 3 - Aion
aufzunehmen. Bruchstücke seiner Erinnerungen. Seine Empfindungen. Seine miserable Körperlichkeit. War ich im Stande sie zu akzeptieren? Wäre es nicht eine allzu bequeme Flucht, wieder mit Lichtmanns Hilfe durch die Stadt der Toten zu gehen, um lieber einen lässigeren Körper zu beschlagnahmen? Meine Gedanken kreisten und lösten sich langsam auf. Den Sonnenaufgang sah ich nicht mehr. Ich schlief dort in der Ecke hinter dem Stahlcontainer erschöpft ein.
Es war bereits heller Tag und die Stadt summte und brummte vor Geschäftigkeit. Für einen späten September war es sehr sonnig und sehr warm. Ein Mann mit einem Schutzhelm beugte sich über mich und schubste gegen meine Schulter.
»Das ist ein Baugelände«, meinte er. »Du kannst nicht hierbleiben. «
Er wirkte nicht feindselig, doch ich wusste, dass er von seinem Standpunkt nicht weichen würde. Ächzend richtete ich mich auf und streckte mich. Ich war nicht nur von den Toten auferstanden — ich fühlte mich auch so. Alles an diesem Körper tat weh. Prächtig.
In meinem Kopf klirrten bedrohlich die Echos des vergangenen Hyper-Albtraums. Interessant, dachte ich und ließ die vertraute Schwermut durch mich hindurch strömen. Zyklothymie, hatte es ein Arzt genannt. Doch das war für mich nur ein Wort, das in keiner Weise die Dinge beschrieb, die ich im Schlaf sah.
Ich schleppte mich davon, und während ich nach einer Stelle Ausschau hielt, an der ich mich hinsetzen und über meine weitere Vorgehendweise nachdenken konnte, begann ich den deutlichsten Schmerz zu spüren. Es war kein Stechen oder Brennen. Es war wie ein Hunger, der durch die Blutgefäße fließt. Ich sah auf meine Hand, die inzwischen zitterte. Was war mit mir los?
An einem kleinen Park angelangt, stieß ich auf Kollegen. Zwei ältere Kerle, die auf einer Bank saßen und sich unterhielten. Sie wirkten nicht ganz so abgewrackt wie ich, doch auch sie trugen die rauen Masken aus ungesunder, mit Warzen bedeckter Haut. Gebrochene Gesichtszüge. Zerkratzte Rachen. Wunde Körper.
»Hey Klaus! Hast es doch nicht getan, alter Schwede...«, rief mir der eine zu und grüßte mich mit erhobener Bierflasche. »Maulheld bis zum letzten...«
»Halt´s Maul,« zischte ich gereizt zurück und eilte weiter. Es fühlte sich an, als spräche der Schatten meines Avatars aus mir heraus.
Nachdem ich mich allein glaubte, setzte ich mich hinter einen Baum und dachte nach. Ich hatte möglicherweise eine ernste Krankheit und brauchte ärztliche Versorgung.
Meine Hand streifte die ausgebeulte Tasche des langen verdreckten Mantels. Die Flasche...
»Dafür habe ich dich also...«, brummte ich und nahm einen Schluck. Grässlicher Rum, sagte etwas Vergangenes in mir. Aber es floss wie Wasser über meine Zunge. Die Flüssigkeit fühlte sich an wie ein Heilmittel. Schon nach drei Minuten war ich viel ruhiger. Der Tag konnte beginnen. Ich war betrunken und der Körper schien sich in seinem gewohnten Zustand zu befinden. Diese Erfahrung machte mich sprachlos. Ich hatte nie gedacht, dass Alkohol eine derartig starke Droge war. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Wirkung und Abhängigkeit von Heroin sehr viel anders war.
»Heuchlerische Weinkenner«, dachte ich. »Verlogene Spießer. In Wirklichkeit alles Junkies...«
Ich röchelte vor mich hin und hustete etwas Schleim auf den Rasen. Dann rappelte ich mich wieder hoch und steckte die Flasche ein. Ich wusste, ich konnte kein Trinker bleiben. Ich hatte eine sehr unangenehme Kampfarena geerbt. Apythia mochte mich anscheinend nicht besonders.
Mein erstes Ziel war ein Internetcafé. Es zu finden und hineinzukommen. Gerade letzteres sollte problematisch werden. Ich würde mich selbst nicht in ein Internetcafe hineinlassen. Da musste man ja Angst haben, dass Hautfetzen von meinen Fingern an der Tastatur kleben blieben.
Der Weg in das Stadtzentrum von Köln dauerte fast einen ganzen Tag und fand seinen Höhepunkt in einer Begegnung höchst unangenehmen Art. Ähnlich wie über die Explosion in meiner Wohnung in Hamburg, kann ich auch hier nur fragmentarisch berichten. Es war ein Schlag hier und ein Schlag da. Nie mit den Händen, sondern mit Schlagstöcken aus Holz. Und dann mit Füßen. Obdachlose nehmen in zwei Situationen die Körperhaltung eines Embryos ein: beim Schlaf, wenn sie irgendwo unter einer Brücke liegen, und wenn sie verprügelt werden. Meine Skinheads waren wie eine vorbeifahrende Lokomotive. Keine Parolen, keine Sprüche. Nur das Testosteron musste
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