In der Mitte des Lebens
bessere Tod sei. Kürzlich habe ich nämlich gelesen, früher habe es in Europa als Fluch gegolten, plötzlich zu sterben, weil der Mensch nichts mehr regeln, sich nicht verabschieden konnte. Heute gelte das als Segen, weil der Tod ohne Schmerzen komme. Du hast sehr eindeutig plädiert: Für dich ist es wichtig, diese Zeit zu haben. Du konntest vieles klären, gerade auch mit deinen Söhnen Frederik und Jakob manches Gespräch führen. Und du sagst: Seit dem Ausbrechen der Krebserkrankung wurden dir vier Jahre geschenkt. Vier Jahre, in denen du recht normal weiterleben konntest. Erst seit letztem Herbst hat dein Körper aufgegeben und dann wolltest du keine Chemotherapie mehr.
Weißt du, was ich bewundernswert finde? Vor sieben Jahren haben deine Frau und du sich getrennt. Eine, statistisch gesehen, »normale Sache«. Nach so vielen Jahren Ehe kommt nach dem Flüggewerden der Kinder die Trennung. Aber als du im Herbst so krank wurdest, dass es nicht mehr möglich wahr, allein zurechtzukommen, habt ihr euch wieder zusammengetan, und deine Frau, die du einst in Schweden kennengelernt hast, nimmt nun den Balanceakt von Pflege und Berufstätigkeit auf sich. Das ist für euch beide nicht so ganz einfach, das ist mir schon klar, aber ich finde, es ist großartig. Und, wie wir eben besprochen haben, spricht das auch für langjährige Ehen, die über Verletzungen und Grenzen hinweg ein Lebensbündnis darstellen.
Mich berührt sehr, wie deine Familie zu dir steht. Du sagst: »Frederik kommt nach der Arbeit oft auf einen Drink vorbei – als ob ich einen Drink nehmen könnte!« Obwohl: Rauchen kannst du offensichtlich immer noch. Du sagst: »Jakob nimmt sich die Zeit, mich in den Rollstuhl zu setzen, wenn ich essen will. Aber das Aufsetzen kostet Schmerzen.« Das kann ich mir kaum vorstellen: du im Rollstuhl. Du warst in deinem ganzen Leben nie krank. Und jetzt erwischt es dich mit solcher Wucht. Ich habe nicht erwartet, dass du das so wacker nehmen würdest.
Und wie so oft haben wir gestritten heute. Dieses Mal ging es um die aktive Sterbehilfe in Holland. »Als Bischöfin musst du dagegen sein«, sagst du, »aber ich bin dafür«. Doch, ja, ich kann das akzeptieren. Aber erst muss sich vieles ändern. Da darf es keine Zwangsernährung per Magensonde mehr geben. Da muss die Hospizbewegung gestärkt werden. Da müssen auch in Deutschland, wie du in der Schweiz, Menschen ihre Morphindosis selbst bestimmen können. Ich habe das ja bei dir gesehen: Du hast bestimmt, wie viel du brauchst und konntest so mit den Schmerzen lange Zeit relativ gut leben …
Weißt du, was ich am meisten an dir bewundere? Das ist dein Mut zum Leben. Was hast du nicht alles aus Holland erzählt, von eurem Verlagshaus, deiner Mutter, deinem Stiefvater, deiner Schwester. Wann immer etwas schwierig wurde, hast du gesagt on verra – wir werden sehen. Nimm jeden Tag, wie er kommt. So war das immer, so ist das jetzt. Manche im ÖRK konnten schwer damit umgehen, als du krank wurdest. Wenn sie esgewagt haben, dich zu fragen, hast du offen geantwortet. Aber meist haben sie krampfhaft versucht, so zu tun, als wäre alles normal, solange du immer noch stundenweise dort warst. Ich weiß, du warst froh, arbeiten zu können. Den ganzen Tag zu Hause, nur Chemotherapie, da wäre dir die Decke auf den Kopf gefallen. Aber es hat mich geärgert, wenn ich im Haus war und jemand hat gefragt: »Weißt du, wie es ihm geht?« Dann habe ich meistens gesagt: »So frag ihn doch ruhig, Jan kann das am besten selbst sagen.« Aber andererseits ist das ja normal in unserer Zeit, diese Unsicherheit im Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod.
Marlin und du, ihr seid beide nicht diejenigen im Ökumenischen Rat, die stets im Vordergrund standen oder stehen wollten. Aber ohne euch und ohne Menschen wie euch würde der Ökumenische Rat, würde die ökumenische Bewegung nicht existieren. Und am Ökumenischen Rat hast du in den letzten Jahren viel gezweifelt und gelitten. Die Zeiten mit Philip Potter, sie waren deine liebsten. Und nun: die Sonderkommission mit der Frage, ob die Orthodoxen Kirchen im Ökumenischen Rat in Zukunft überhaupt noch mitarbeiten wollen. Außerdem ist für alles immer weniger Geld da und nur noch wenige Impulse dringen nach außen. Selbst die »Dekade zur Überwindung der Gewalt« scheint zu versickern. Da habe ich dich manches Mal enttäuscht gesehen. Und wir haben heftig debattiert, bei manchem guten Essen. Ich danke dir für so viele schöne Essen, übrigens.
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