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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Käßmann
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Das bedeutet das evangelische
     Reden von sola gratia : Heil und Heil-Werden kann mir nur von außerhalb zugesprochen werden. Diese Zusage erreicht den Menschen allerdings nur über
     eine Art zweifache Differenzerfahrung: Einerseits bin ich nicht so, wie ich sein sollte oder möchte. Die Glaubenserfahrung ist, andererseits: Ich werde so
     angenommen, akzeptiert, geliebt, wie ich bin, ohne Vorleistungen – obwohl das Gegenüber, das mich liebt, um meine Schwächen und Fehler weiß. So wird
     Liebe zur Lebenspraxis des Glaubens. 55
    Nach christlichem Verständnis gilt also: Ein erfülltes Leben, einen Sinn, der es trägt – den kann ich nicht selbst schaffen, er wird mir
     zugesprochen. Dietrich Bonhoeffer, der Theologe und Widerstandskämpfer im Naziregime, hat es so gesagt: »Wir meinen, weil dieser oder jener Mensch lebt,
     habe es auch für uns Sinn zu leben. In Wahrheit ist es aber doch so: Wenn die Erde gewürdigt wurde, den Menschen Jesus zu tragen; wenn ein Mensch wie
     Jesus gelebt hat, dann, und nur dann hat es für uns Menschen einen Sinn zu leben. … Der unbiblische Begriff des Sinnes ist ja nur eine Übersetzung
     dessen, was die Bibel ›Verheißung‹ nennt.« 56
    Wer nach Sinn sucht, fragt nach erfülltem Leben. Als Christin entspringt für mich dieses erfüllte Leben dem Glauben als Vertrauen
     in die Zuwendung durch Gott. Glaube bezeichnet nach christlichem Verständnis, dass ich mich auf Gott als mein Gegenüber verlasse. Weil Gott Beziehung
     sucht, ein Gegenüber sehen will, deshalb hat Gott den Menschen geschaffen zum eigenen Bilde. Nun ist mir sehr wohl bewusst, dass der Gedanke, sich auf
     eine Gottesbeziehung, auf Gott als Gegenüber einzulassen, für viele Menschen gerade in der Mitte des Lebens heute eher fremd ist. Es ist besonders die
     Altersgruppe der 25- bis 55-Jährigen, die in den Kirchenbänken fehlt. Wenn aber der transzendente Gott in meinem Leben keine Rolle spielt, dann stellt
     sich meist etwas ein, das gottähnlich wird. Schon Martin Luther hat das festgestellt: »Dasjenige, worauf ein Mensch sich so verlässt, woran er sein Herz
     hängt, ist sein Gott (oder sein höchstes Gut oder die für ihn absolute Autorität).« 57 Welche Götter haben
     Menschen heute? Vielleicht den DAX, über dessen Befinden wir stündlich informiert werden? Oder Gesundheit, Fitness, Geld? Gerade in der Mitte des Lebens
     kann die Frage nach dem Sinn und die (Neu-)Entdeckung des Glaubens eine Bewegung sein, die Antworten findet auf die Sehnsucht nach dem erfüllten
     Leben.
    Weiter gehört dazu aber die Gemeinschaft. Vor Kurzem habe ich in Güstrow eine Ernst-Barlach-Ausstellung ansehen können. In Güstrow verbrachte der
     Bildhauer seine letzten Lebensjahre; Bitteres hat er dort erfahren, als »entarteter Künstler« wurde er am Ende von den Nationalsozialisten
     ausgegrenzt.
    In einer kleinen Kapelle waren Figuren Ernst Barlachs zu sehen, unter anderem eine Auftragsarbeit, die er für Lübeck begonnen hat. Ihr Titel ist
     »Gemeinschaft der Heiligen«, und es hat mich sehr bewegt, die ersten drei Figuren zu sehen, die er für diese nie vollendete Sequenz geschaffen hat. Die
     erste Figur ist »der Sänger«. Ein junger Mann, der die Noten in den Händen nach unten hat sinken lassen. Trotzig und sanftmütig zugleich blickt er nach
     vorn. Ich denke an einen, der singt angesichts desTodes. In der Verfolgung im sogenannten Zirkus der Römer vielleicht – Brot und
     Spiele für die einen, Leiden und Tod für die anderen. Immer wieder berichten die Geschichten, dass Menschen auch gesungen haben in den
     Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, die Moorsoldaten etwa, die Verfolgten so mancher Regime. »Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei!«. Das
     Singen hat da manchmal eine besondere und subversive Kraft.
    Die zweite Figur, die in Güstrow zu sehen ist, das ist ein Bettler. Zerschossen die Beine. Auf Krücken mit letzter Kraft gestützt. Aber aufrecht! Der
     Blick ist trotzig gen Himmel gerichtet. Ein Versehrter des Ersten Weltkrieges wohl. Barlach selbst hatte diesen Krieg zunächst begrüßt und sich gewünscht,
     dass die Deutschen es den anderen mal »so richtig zeigen«. Aber bald begreift er das ganze Elend des Krieges. In den Augen, den vielleicht erblindeten
     Augen dieser Figur, ist es zu sehen. Dieser Bettler mit den leeren Augen bestätigt eindrücklich, was der Jesus in der Bergpredigt sagt: »Selig sind die
     Friedfertigen, denn ihrer ist das Himmelreich.«
    Die dritte Figur

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