In der Nacht (German Edition)
starrte auf ihr Ohrläppchen. Das rechte. Es sah aus wie eine Kichererbse, nur weicher. Er fragte sich, wie es wohl morgens gleich nach dem Aufwachen schmecken mochte.
Joe sah auf den Tresen. »Und wenn ich diesen Abzug betätige?«
Sie folgte seinem Blick zu der Pistole, die er dorthin gelegt hatte.
»So schnell kommen Sie im Leben nicht an Ihr Ohrläppchen.«
Sie wandte den Blick von der Waffe und ließ ihn so langsam über seinen Unterarm wandern, dass sich ihm die Härchen aufstellten, dann über seine Brust, seine Kehle und sein Kinn. Dann sah sie ihm hart, fast herausfordernd in die Augen; in ihren Pupillen schimmerte etwas, das lange vor Anbeginn der Zivilisation in die Welt gekommen war.
»Um Mitternacht habe ich Schluss«, sagte sie.
2
Der große Schlaf
Joe wohnte in der obersten Etage einer Pension im West End, nur einen Steinwurf vom Trubel am Scollay Square entfernt. Die Pension gehörte Tim Hickey und wurde von ihm und seinen Männern betrieben, die schon lange die Stadt unsicher machten, aber erst seit der Prohibition so richtig dick im Geschäft waren.
Der erste Stock wurde für gewöhnlich von Paddys bewohnt, die völlig zerlumpt und ausgemergelt direkt vom Schiff kamen. Zu Joes Aufgaben gehörte es, sie an den Docks abzuholen. Anschließend wurden sie dann in Hickeys Suppenküchen mit Schwarzbrot, Muschelsuppe und Schweinekartoffeln verköstigt und in Dreierzimmern mit festen, sauberen Matratzen untergebracht, während die älteren Huren im Keller ihre Klamotten wuschen. Wenn sie nach etwa einer Woche wieder halbwegs bei Kräften, ihre Haare von Läusen und ihre Münder von faulen Zähnen befreit worden waren, füllten sie nur allzu gern die bereitgehaltenen Wählerregistrierungskarten aus und versprachen, Hickeys Kandidaten bei der nächsten Wahl nach Kräften zu unterstützen. Zu guter Letzt gab man ihnen dann die Namen und Adressen anderer irischer Einwanderer, die ihnen dabei helfen konnten, so schnell wie möglich Arbeit zu finden.
Im zweiten Stock, den man nur durch einen separaten Eingang betreten konnte, befand sich das Kasino. Im dritten waren die Huren untergebracht. Joe wohnte im vierten, in einem Zimmer am Ende des Gangs. Auf der Etage gab es ein hübsches Bad, das er sich mit spendablen Freiern und Penny Palumbo teilte, der besten Nutte in Tim Hickeys Stall. Penny war fünfundzwanzig, sah aber aus wie siebzehn. Ihr Haar glänzte wie Honig im Glas, wenn die Sonne hindurchschien. Ein Mann war wegen Penny von einem Dach in den Tod gesprungen; ein weiterer hatte sich in den Fluss gestürzt, und ein Dritter hatte es vorgezogen, statt sich selbst einen anderen Typen umzubringen. Joe mochte sie trotzdem: Sie war stets freundlich und wahrhaft ein schöner Anblick. Doch sosehr sie nach süßen Siebzehn aussah, hätte er darauf gewettet, dass sie das Gehirn einer Zehnjährigen besaß. Soweit Joe es beurteilen konnte, drehte sich alles in ihrem Kopf ausschließlich um die drei neuesten Gassenhauer und den vagen Wunsch, vielleicht irgendwann einmal Schneiderin zu werden.
Je nachdem, wer zuerst ins Kasino hinuntermusste, brachten sie einander gelegentlich einen Kaffee vorbei. An diesem Morgen war Penny dran. Sie saßen am Fenster und sahen auf die gestreiften Markisen und die riesigen Reklametafeln am Scollay Square hinunter, während die ersten Milchlaster die Tremont Row entlangknatterten. Penny erzählte ihm, dass ihr letzte Nacht eine Wahrsagerin vorausgesagt hatte, dass sie entweder jung sterben oder nach Kansas ziehen und der Pfingstgemeinde beitreten würde. Als Joe sie fragte, ob sie Angst vor dem Tod habe, sagte sie, na klar, aber Kansas wäre garantiert noch schlimmer.
Als Penny gegangen war, hörte er, wie sie draußen auf dem Gang mit jemandem sprach, und kurz darauf stand Tim Hickey in der Tür. Er trug eine dunkle Nadelstreifenweste, eine dazu passende Hose und ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Tim war ein gepflegter Mann mit einem dichten Schopf weißen Haars und den traurigen, resignierten Augen eines Kaplans, der im Todestrakt eines Zuchthauses seinen Pflichten nachging.
»Mr. Hickey, Sir.«
»Morgen, Joe.« Tim trank einen Schluck Kaffee aus seinem altmodischen Glas, in dem sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages fingen. »Übrigens, was diese Bank in Pittsfield angeht…«
»Ja?«, sagte Joe.
»Der Mann, den du brauchst, kommt immer donnerstags hierher, aber sonst ist er abends meist drüben in Upham’s Corner – du weißt, welchen Laden ich meine. Du
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